Neue Züricher Zeitung, 17.12.1999

Warten auf die Dividende des Fortschritts in Urfa

Ungewisse Auswirkungen des Atatürk-Damms im Südosten Anatoliens

Zehn Jahre nach Beginn des gigantischen Südostanatolien-Projekts in der Türkei sind die Meinungen über das weitflächige Bauwerk an den Oberläufen des Euphrats und des Tigris geteilt. Während die Initianten wirtschaftliche und entwicklungspolitische Fortschritte herausstreichen, hat in der Region ein rasanter Verstädterungsprozess eingesetzt. Völlig ungeregelt sind die regionalen politischen Auswirkungen der Dämme und Bewässerungskanäle.

Wok. Urfa, im November

In Urfa sind die ruhigen Zeiten vorbei. In ihrer weit über 3000jährigen Geschichte hat die Stadt im nördlichen Mesopotamien schon manchen Aufschwung und Niedergang erlebt. Nach der Herrschaft der Hurriter, der Hethiter, der Hellenen, der Römer, der Perser, der Seldschuken und der Kreuzritter kehrte in der Stadt erstmals unter den Ottomanen in der Mitte des ablaufenden Jahrtausends eine längere Periode des Friedens ein. Im Schnittpunkt von kurdischen, arabischen und türkischen Siedlungsgebieten gelegen, entwickelte sich Urfa, von der Nähe zu Syrien begünstigt, zu einer lebendigen Handelsstadt. In der Umgebung geboten Grossgrundbesitzer über das Schicksal der Bauern, die auf den trockenen Böden ein karges Auskommen fanden. Fernab von den Zentren der Macht nahm hier das Leben einen ruhigen Lauf; wohl ähnlich wie zu biblischen Zeiten, als Abraham in einer Höhle ausserhalb der Stadt geboren worden sein soll. 1984 beschloss das Parlament in Ankara, den Namen der Stadt um das Attribut «sanli» (ruhmreich) zu erweitern. Offiziell heisst der Ort seither Sanliurfa. Doch nicht der neue Name, sondern das Wasser des Euphrats leitete das Ende ruhiger Zeiten in Urfa ein.

Hoffnung auf ein Eldorado

Am 9. November 1994 hat der türkische Präsident Demirel in einer feierlichen Zeremonie den ersten von zwei 26 Kilometer langen Wasserstollen ausserhalb Urfas eröffnet. Im Endstadium sollen die beiden Röhren mit einem Durchmesser von über sieben Metern und einer maximalen Kapazität von 328 Kubikmetern pro Sekunde einen Teil des nördlich von Urfa durch den Atatürk-Damm gestauten Euphratwassers auf die nach Syrien hin leicht abfallende Harran-Ebene umleiten. Da werde, so verkünden die Promotoren des Projekts, dereinst auf einer Fläche von 141 000 Hektaren ehemals trockenen Landes eine Kornkammer entstehen. Das Bauwerk ist Teil des Güney Anadolu Projesi (GAP), das in dem vernachlässigten Südosten einen Modernisierungsschub auslösen soll. Obwohl derzeit erst etwa ein Drittel der Ebene bewässert ist, scheinen Investoren aus dem In- und Ausland an dem Projekt allmählich Gefallen zu finden. Alle grösseren türkischen Banken eröffneten in Urfa eine Filiale, und seit kurzem ist der Ort gar mit einem Direktflug in knapp zwei Stunden von Istanbul aus zu erreichen. Das einzige Vier-Sterne-Hotel der Stadt ist oft ausgebucht, und im bunten orientalischen Gewimmel im Zentrum fallen die Herren in dunklem Anzug und Attachékoffer längst nicht mehr auf. Goldgräberstimmung herrscht.

Mit dem Wasser kamen aber auch die Probleme. An einer von der GAP-Verwaltung in Urfa organisierten Fachtagung für Hydrologen aus aller Welt wurde der Versuch gewagt, zehn Jahre nach Fertigstellung des Atatürk-Damms eine erste Bilanz zu ziehen. Der Verantwortliche einer landwirtschaftlichen Versuchsanstalt in der Harran- Ebene räumte ein, dass die lokalen Bauern erst gar nichts mit dem Wasser anzufangen wussten, da sie bisher vor allem gegen die Folgen von Trockenheit gekämpft hatten. Zwar wurden sie mit neuem Saatgut vertraut gemacht, doch mehrheitlich entschieden sich die Landwirte wegen vermeintlicher Abnahmegarantien für den Anbau von Baumwolle. Bereits im vergangenen Jahr war der Markt überschwemmt, und die Preise fielen. Etliche Bauern hatten Mühe, Bankkredite, die sie zur Finanzierung von Traktoren und andern Produktionsmitteln aufgenommen hatten, zurückzuzahlen. Aus ökologischer Sicht bedenklich wirkte sich aus, dass die Bauern in der Regel weit mehr Wasser als nötig aus den offenen Kanälen in ihre Felder ableiteten. Die Folge davon war eine fortschreitende Übersalzung der Böden, die zu einer völligen Unfruchtbarkeit führen kann.

Steigerung des Bodenpreises

Die GAP-Verwaltung versucht darum andere, jedoch teurere Bewässerungstechniken wie Sprinkleranlagen und Tropfleitungen zu fördern. Dafür sind wiederum Bankkredite nötig. Es sei damit zu rechnen, so vermuten aussenstehende Beobachter, dass kleine Landbesitzer weder die Mittel noch die Kenntnisse haben, in diesem Kreislauf auf die Länge mitzuhalten, und ihr Land verkaufen müssen. Es bleibt ihnen allerdings der Trost, dass der Wert ihres Bodens seit Beginn der Bewässerung um das Zehnfache gestiegen ist. Derzeit liegt der Quadratmeterpreis etwa bei einem Dollar. Für internationale Investoren ist dies ein traumhaft tiefer Preis. Laut Angaben von einheimischen Geschäftsleuten haben israelische Käufer bereits zweitausend Hektaren Land für den Gemüseanbau erstanden. Im nächsten Jahr soll in Urfa ein Frachtflughafen fertiggestellt sein und damit den Zugang für Frischgemüse und Schnittblumen auf den Weltmarkt sicherstellen. Das Wasser hat den sozialen Wandel in der Harran-Ebene rapid beschleunigt. Die auf Selbstversorgung ausgerichtete, feudal geprägte Bauerngemeinschaft wandelte sich in weniger als einem Jahrzehnt zu einer kapitalorientierten Farmergesellschaft. Ökonomen bezeichnen diesen Prozess als Strukturwandel.

Diese gesellschaftliche Veränderung entspricht offensichtlich den Wünschen der Initianten des GAP-Projekts. Die direkt dem Ministerpräsidenten unterstellten GAP-Verantwortlichen publizierten vor kurzem eine Studie über die gesellschaftlichen Umwälzungen in der von dem Projekt betroffenen Gegend. In dieser Schrift werden die Gesellschaftsstrukturen der Region als «konservativ, wenn nicht gar reaktionär» bezeichnet. Kritisiert wird das Verhaften der Bevölkerung in Stammesstrukturen, die einer gedeihlichen Entwicklung hinderlich seien und darum überwunden werden müssten. Die Landflucht und damit einhergehend ein rapider und unkontrollierter Verstädterungsprozess werden wohlwollend registriert, da «als Folge der Migration in die städtischen Zentren die Beziehungen der Leute zu ihrem Land, zur Familie und zum Stamm schwächer geworden sind». Der Anteil von Heiraten zwischen Cousins und Cousinen ersten Grades liegt in ländlichen Gebieten noch bei über 50 Prozent. Das GAP-Vorhaben zeige, dass regionale Entwicklung mit Hilfe von Wasser möglich sei, beteuerte an der Fachtagung der britische Hydrologe Asit K. Biswas, ein eingefleischter Bewunderer aller grossen Staudammprojekte auf der Welt. GAP sei das beste Beispiel für eine ganzheitliche und nachhaltige Entwicklung.

Verärgerte Anrainerstaaten

Solch lobende Worte waren Balsam für die Seele des GAP-Präsidenten, Olcay Ünver. Er sah sein Projekt in letzter Zeit vermehrt in- und ausländischer Kritik ausgesetzt. In der Türkei mehrten sich einflussreiche Stimmen, welche die geplante Überflutung des kulturhistorisch äusserst bedeutsamen Ortes Hasankeyf zu verhindern versuchen. Und die wegen der verschiedenen Stauseen nötig gewordenen Umsiedlungsprogramme - gegen 200 000 Personen sind davon betroffen - trugen den Projektverantwortlichen bereits manche Kritik ein. Sorge bereitet Ünver auch das Grollen Syriens und des Iraks, die als südliche Anrainerstaaten des Euphrats und des Tigris sich bereits über einen empfindlichen Rückgang der Wassermenge in den beiden Flüssen beklagen. Auch ohne hydrologische Kenntnisse lässt sich einfach errechnen, dass nach einem Vollausbau des GAP-Projekts die Abflussmenge an der türkischen Südgrenze unter ein kritisches Mass fallen wird. Dies wird in den tieferliegenden Anrainerstaaten zu ernsten Versorgungsproblemen führen. Ünver ist sich dessen bewusst. Er weist aber darauf hin, dass die Türkei diesbezüglich an keine internationalen Abkommen gebunden sei. Hinzu komme, so formuliert er es diplomatisch, dass in den südlichen Nachbarländern teilweise gar keine Ansprechpartner zur Verfügung stünden. Persönlich hoffe er aber, dass in Zukunft die Grenzen fallen und die Region zu einer Wirtschaftsgemeinschaft zusammenwachse.

Bis dahin ist der Weg aber noch weit. Ein Textilkaufmann, der in seinem Kontor am Rande von Urfas Basar zum Tee lädt, hat sich aus dem syrischen Markt zurückgezogen. Das Geschäft sei uninteressant geworden, sagt er, die Leute hätten kein Geld. In ihrer wirtschaftlichen Entwicklung sei die Türkei den Syrern um 40 Jahre voraus, und der Abstand vergrössere sich immer mehr. Er findet nur lobende Worte für das GAP-Projekt. Endlich fliesse nun Kapital von aussen in die Region, das Geld zirkuliere in der Stadt. Er sehe den Tag kommen, da Urfa reicher sein werde als Istanbul. Sein Kontor, den er vor zehn Jahren beinahe umsonst erworben hatte, ist heute 100 000 Dollar wert. Ein kleiner Teppichhändler im Basar bestätigt, dass heute die Einheimischen mehr Geld hätten und sein Geschäftsgang sich gut entwickle. Flau sei aber das Geschäft mit den Touristen, denn die, so vermutet er, fürchteten sich vor dem Krieg gegen die Kurden im Südosten. Doch dieser Krieg sei zu Ende, halten wir entgegen, es stehe in allen Zeitungen. Der Händler schweigt, blickt sich im Gewimmel das Basars misstrauisch nach allen Seiten um, bietet ein Gläschen Tee an und zieht es vor, über das Wetter zu sprechen.

Im Büro der prokurdischen Hadep-Partei - sie gilt als legaler Flügel der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK - wird der wirtschaftliche Aufschwung in der Region in Abrede gestellt. Und selbst wenn er einträfe, hiesse das noch beileibe nicht, dass der Krieg zu Ende sei. Denn die zentrale Forderung der Kurden, ihre Anerkennung als gleichberechtigte ethnische Minderheit im türkischen Staat, sei keineswegs erfüllt. Das GAP-Projekt habe die sozialen Gegensätze, die in Ankara als Ursache des Kurdenproblems gelten, gar noch verstärkt. Auf dem Land, speziell in den neu bewässerten Gebieten, sei das Feudalsystem gefestigt worden, da die Grossgrundbesitzer mit Landkäufen ihre Macht noch ausgebaut hätten. Viele Arme hätten das wenige an Boden, das sie besassen, verloren und seien in die Stadt gezogen, wo sie nun ohne Arbeit auf bessere Zeiten warteten. Der Vorwurf einer unkontrollierten Zuwanderung wird im städtischen Amtshaus bestätigt. Der für die Finanzen zuständige Chefbeamte gesteht ein, dass die Verwaltung die Übersicht über die Armenviertel längst verloren hat. Klar sei einzig, dass die Stadt heute bedeutend mehr Einwohner zählt als 430 000, wie 1997 offiziell angegeben. Um die Zuwanderung in geregelte Bahnen zu lenken, fehle das Geld.

Am äussersten Rand der Stadt, wo unverputzte, aus Zementsteinen hastig errichtete einstöckige Häuser die Hügel überziehen, begegnen wir einem Familienvater, der sich als Elektriker mit Gelegenheitsarbeiten mehr schlecht als recht durchs Leben schlägt. Vor neun Jahren zog er hierher und baute sich wie alle andern Zuwanderer illegal ein Haus. Er sei der feudalen Herrschaft in seinem Dorf entronnen und habe in der Stadt individuelle Freiheit gewonnen, sagt er. Doch aus wirtschaftlicher Sicht betrachtet, so spricht er mit Bedacht, sei er so unfrei wie zuvor. Und dies ändere sich erst, wenn ein freier und unabhängiger Staat der Kurden ausgerufen werde.

Zusatzkasten: Ein Projekt gigantischen Ausmasses

Wok. Das Südostanatolien-Projekt (GAP) ist laut Angaben des dafür zuständigen Amts des türkischen Ministerpräsidenten sowohl bezüglich Grösse und Zielsetzung eines der ehrgeizigsten Bauvorhaben der Welt. Das Projekt erstreckt sich über eine Region von 75 000 Quadratkilometern in den Provinzen Adiyaman, Gaziantep, Sanliurfa, Mardin, Diyarbakir, Siirt, Batman und Sirnak. Über fünf Millionen Bewohner in 3773 Dörfern und in 74 Städten sind davon direkt betroffen. Vorgesehen sind 22 Staudämme und 19 hydroelektrische Staudämme an den Oberläufen der Flüsse Euphrat und Tigris. Im Endstadium ist die Bewässerung von 1,69 Millionen Hektaren Land vorgesehen. Die Kraftwerke des GAP sollen jährlich rund 23 000 Gigawattstunden Strom produzieren. Diese Menge entspricht ungefähr einem Viertel des momentanen Elektrizitätsbedarfs der Türkei. Grösstes Bauwerk ist der 1994 fertiggestellte Atatürk-Damm. Allein die dort installierten acht Sulzer-Turbinen produzieren jährlich 8900 Gigawattstunden Strom. Das entspricht laut einer von der Erklärung von Bern 1998 herausgegebenen Studie von Joerg Dietziker («Türkische Dämme und Schweizer Helfer») etwa der fünffachen Kapazität des Werks Grande Dixence im Wallis. Der Atatürk-Damm ist 169 Meter hoch und 1644 Meter lang. Er ist der sechstgrösste Erdschüttdamm der Welt. Die geschätzten Gesamtkosten des 1981 lancierten GAP werden mit 32 Milliarden Dollar veranschlagt. Die Fertigstellung des weitgehend türkisch finanzierten Projekts ist für 2010 vorgesehen. Ob die Mittel dazu reichen, steht noch nicht fest.