Die Welt, 18.12.1999

Europa braucht die Türkei

Kolumne von Lord Weidenfeld

Es war der überraschende Großeinsatz von Stukas und Fallschirmjägern, der den Weg für die Panzer durch die Maginotlinie öffnete. Diese Strategie machte ein auf den Erfahrungen der Vergangenheit - des Ersten Weltkrieges - behutsam aufgebautes Verteidigungskonzept der Alliierten zunichte. Ein neuer Geist der Kriegführung triumphierte über ein rückwärts gewandtes Leitmotiv. Manche Argumente der großen Debatte über die Rolle der Türkei in Europa erinnern mich an diese Maginot-Mentalität.

Wenn die Türkei heute für Europa wichtig ist, wird sie am Ende des ersten Quartals des 21. Jahrhunderts umso wichtiger sein. Angesichts russischer Ungewissheiten, der Lage im Mittleren Osten und in Südasien, sowie eines starken, stolzen Chinas könnte eine selbstbewusste, säkulare, demokratische und prosperierende Türkei in Krisenzeiten ein tragender Pfeiler und im Frieden ein mächtiger Brückenkopf sein. Diese Annahme beruht zwar auf mehreren Voraussetzungen und stellt natürlich eine Herausforderung dar. Wenn der Westen aber die Türkei aufrichtig ernst nimmt, muss und kann sie den Test bestehen.

Kein Zweifel: Der Zeitrahmen dafür reicht bis weit in das nächste Säkulum. Kein Zweifel auch: Europa muss auf seinen Standards bestehen. Premier Ecevit hat Demokratie-Defizite und Menschenrechtsverletzungen eingeräumt. Er hat zugesichert, die Folter abzuschaffen. Zwei Naturkatastrophen lasten auf der Wirtschaft und dem Alltag. Unterbezahlte Polizisten sind nicht unbedingt Wächter bürgerlicher Freiheiten. Sektorale Armut, arbeitslose Clan-Oberhäupter, unruhige Nachbarn jenseits und Terrorismus diesseits der Landesgrenze drücken der Gesellschaft ihre Stempel auf. Freilich, auch in Ländern, die längst als EU-Kandidaten akzeptiert worden sind, herrschen klägliche Zustände: Erinnert sei an die Kinderausbeutung in Rumänien oder die Behandlung der Sinti und Roma in Tschechien.

In Helsinki wurde die Türkei aufgefordert, den Status der Kurden zu überprüfen und mit Athen einen Weg zur Beendigung der zypriotischen Teilung zu suchen. Es wäre zu simpel, die PKK mit den Kurden gleichzusetzen. Der Konflikt verdeckt eine lange Tradition kultureller Symbiose. Nur innerhalb der EU aber kann das Kurdenproblem mit Aussicht auf Erfolg angegangen werden. Die spontane Hilfe Griechenlands für die erdbebengeprüfte Türkei hat dort nachhaltig Eindruck hinterlassen.

Es gibt viele weitere Anhaltspunkte für die Hoffnung auf raschen Fortschritt. Die Türkei verfügt über exzellente Arbeitskräfte und einen tatkräftigen Mittelstand. Ich habe einige Erfahrung mit Hochschulen in Europa und Amerika; türkische Universitäten, Institute und Ingenieurshochschulen können nahezu als einzige in der islamischen Welt mit den besten Zentren des Westens mithalten. Die Türkei ist ein loyaler Nato-Partner. Wenn sie gut genug dafür ist, das Leben ihrer Söhne für die Atlantische Allianz einzusetzen, dann ist sie mit Sicherheit berechtigt, am materiellen und sozialen Fortschritt eines expandierenden Europas teilzuhaben. Eine neue Generation von Intellektuellen, Managern und Offizieren wird wohl die radikalen Reformen durchführen, die zur Zivilgesellschaft führen und das Land vor dem Virus des Extremismus schützen.

Die Türkei möchte gute Beziehungen zu ihren arabischen Nachbarn pflegen. Ankaras Streitkräfte sind ja nicht zuletzt auch eine stabilisierende Kraft im Nahen Osten. Sie verfügen über enge Beziehungen zu Israel, dessen Einkreisungsfurcht deshalb deutlich gesunken ist. Die türkisch-israelische Allianz wird oft fehlinterpretiert -auch durch europäische Kritiker mit mehr oder weniger bewusstem antiisraelischem Vorurteil.

Niemand sollte die gewaltigen demographischen, kulturellen, wirtschaftlichen und menschlichen Probleme klein reden, vor die sich Deutschland mit seiner großen türkischen Minderheit gestellt sieht. Man sollte auch nicht jene belächeln, die die letzten Spuren christlich-abendländischer Identität in einem multikulturellen Flickenteppich aufgehen zu sehen befürchten. Wir dürfen aber ebenso nicht die Chance rascher Anpassung in einer Atmosphäre der Freundschaft und des Engagements unterschätzen. Auf lange Sicht werden die Probleme von heute durch die Beiträge einer stolzen, in die EU integrierten Nation, die über Jahrhunderte in fruchtbarer Wechselwirkung mit Europa lebte, aufgewogen werden.

Würde die EU hingegen die Tür zur Türkei wieder zuschlagen, wären die Konsequenzen gravierend. Die Türkei könnte dann entweder ein fundamentalistischer Staat oder eine brutale Militärdiktatur werden, die sich antiwestlichen Abenteurerallianzen zugesellte. Echos eines aggressiven türkischen Nationalismus pantürkischer Provenienz könnten zu hören sein; der Austritt aus der Nato wäre nahezu gewiss. Die Vorstellung, der Türkei den Status eines "nahen Auslands" anzudienen oder sie als Primus inter Pares des Nahen Ostens zu betrachten, ist unrealistisch und naiv.

Die Globalisierung wird und muss unterschiedliche Kulturen respektieren. Wenn die Türkei in die Familie der europäischen Nationen Aufnahme findet, ist das ein Anlass für aufrichtige Gratulation.