Frankenpost, 17.12.1999

Leitartikel

Schröders Club des christlichen Abendlandes

Von Heinrich Giegold

Zählen wir einmal auf, wer die Europäische Union heute ist: Ihre Gründerstaaten heißen seit den Römischen Verträgen von 1957 Frankreich, Italien, Deutschland, Belgien, die Niederlande und Luxemburg. Das waren die ersten sechs. Dann kamen in den letzten beiden Jahrzehnten neun weitere hinzu: Großbritannien, Irland und Österreich, Dänemark, Schweden und Finnland, Griechenland, Spanien und Portugal. Also haben wir fünfzehn Mitglieder der Europäischen Union, zurzeit. Mit sechs weiteren Bewerbern wird in Brüssel verhandelt, mit Ungarn, Polen, Tschechien, Slowenien, Estland und Zypern. Und nun hat der Europäische Rat eben in Helsinki beschlossen, im Februar, dann schreiben wir das Jahr 2000, Verhandlungen auch mit Bulgarien, Lettland, Litauen, Malta, Rumänien und der Slowakei aufzunehmen. Was für Unterschiede, was für Probleme! Unsere geteilte Welt in der Politik steht einer globalisierten Welt in Wirtschaft, Wissenschaft, Technologie und Verkehr gegenüber. Auch in Sachen Demokratie, Einhaltung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Schutz der Völker, die einer Minderheit angehören, sind noch hohe Hindernisse zu überwinden.

* Von Gerhard Schröder, dem Bundeskanzler, hätten wir uns in seiner gestrigen Regierungserklärung mehr Deutlichkeit gewünscht, größere Klarheit, als er sagte, warum der Europäische Rat der Türkei den Status eines Bewerbers für die Europäische Union verliehen habe. Verschwiegen hat er nicht, dass diese Frage die schwierigste des Helsinki-Treffens war. Zwar habe der türkische Ministerpräsident schon zugesagt, für die Abschaffung der Todesstrafe in seinem Land eintreten zu wollen. Aber sonst? Kein Wort von Schröder über die innere Macht der türkischen Militärs, die mit Demokratie unvereinbar ist. Von den Menschenrechten und ihrem hohen Status sprach der Kanzler. Russland hielt er in Helsinki vor, in Tschetschenien einen miserablen Krieg zu führen. Doch dass dies die Türkei seit vielen Jahren schon gegen die Kurden tut - kein Wort davon in Berlin. Nicht ein Satz, dass die türkischen Frauen ganz, ganz mindere Rechte haben gegenüber den Frauen in Europa. Dass es einen islamischen Fundamentalismus gibt, der, in Politik umgesetzt, gefährlich werden kann, auch an unseren Schulen. Dinge verschwommen zu lassen, wo das Volk ein Recht hat, Deutliches zu hören: Das ist zu wenig, um Rassismus und Rechtsradikalismus aus den Köpfen zu verbannen.

* Dagegen hat es sich Herr Schröder nicht nehmen lassen, in seiner Regierungserklärung zu sagen, dass die Europäische Union kein Club des christlichen Abendlandes sei - so wörtlich -, sondern als Wertegemeinschaft des Rechts, der Demokratie, Toleranz, Humanität und Solidarität begriffen werden müsse. Warum hat nicht ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages dem oberflächlich formulierenden Kanzler entgegengehalten, dass 2000 Jahre Christentum mehr ist als die Verirrung der Inquisition? Christentum viel mehr ist als der ,,christliche Club des Abendlandes'' "a la Schröder: Es schuf die Achtung des Rechts in Europa, hat ein Heer von Kronzeugen pro Demokratie, lebt von der Duldsamkeit und weiß, wie unter dem Kreuz Humanität und Solidarität gefestigt werden.

* Nein, viel Wasser wird durch die Dardanellen fließen, bis die Türkei die Chance hat, wirklich Beitrittsverhandlungen zu führen, wenn überhaupt. Kommt Zeit, kommt Rat. Oppositionsführer Wolfgang Schäuble warnte zu Recht vor den Gefahren auf dem Weg zur Erweiterung der EU. Erst müssen wir unsere Hausaufgaben machen. Und: Wo sind denn die Grenzen einer künftigen Europäischen Union? So die Türkei Kandidatenstatus bekommt, warum dann nicht das ganze, riesige Russland, Weißrussland und die Ukraine, falls sie an die Türe klopfen? Auch die Staaten des Kaukasus? Die Zeitung Die Welt, zum Beispiel, beendete eben einen Titelseiten-Kommentar mit den Worten: ,,Gehört nicht eher Israel in die EU als die Türkei?'' Dieses Thema wird auch kommen. Mit aller Macht.