Frankfurter Rundschau, 17.12.1999

Ende der Eiszeit

Cigdem Akkaya und Faruk Sen über das neue Verhältnis zwischen Türkei und Europäischer Union nach dem Gipfel von Helsinki

Bei ihrem Gipfeltreffen in Helsinki haben die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) der Türkei nach langjährigem politischen Tauziehen nun den Status eines Beitragskandidaten zuerkannt. Dabei werde nicht nur die Türkei von der EU, sondern die EU auch von der Türkei profitieren, analysieren Cigdem Akkaya und Faruk Sen die neue Situation. Wir dokumentieren ihren Text leicht gekürzt. Sen ist Direktor des Zentrums für Türkei-Studien an der Universität Essen, Akkaya stellvertretende Direktorin des Zentrums.

Einführung Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben mit ihrem Beschluss auf dem Gipfel von Helsinki, die Türkei als Beitrittskandidatin für die EU anzuerkennen, ein neues Kapitel in den türkisch-europäischen Beziehungen aufgeschlagen. Zugleich haben sie die politische Eiszeit, die zwischen der Türkei und der EU nach dem Gipfel von Luxemburg 1997 ausgebrochen war, endgültig beendet.

Die Eskalation der vergangenen zwei Jahre und die Entspannung der vergangenen Wochen sind nur vor dem Hintergrund von vier Jahrzehnten europäisch-türkischer Beziehungen zu verstehen. Die Beziehungen der Türkei zur damaligen Europäischen Wirtschaftsunion begannen am 31. Juli 1959 mit der Antragstellung der Türkei auf Mitgliedschaft. Am 1. Dezember 1964 trat das Assoziationsabkommen der EU mit Ankara in Kraft. Schon damals wurde der Türkei die Vollmitgliedschaft in der damaligen Europäischen Gemeinschaft in Aussicht gestellt.

Seitdem geht die Türkei - pacta sunt servanda! - von einem Rechtsanspruch auf die Aufnahme in die Union aus. Dieses Abkommen bildet auch heute noch die vertragliche Grundlage für die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU.

Das Abkommen sah unter anderem die Bildung einer gemeinsamen Zollunion vor, die mit dem 1. Januar 1996 umgesetzt wurde und sich zumindest aus europäischer Perspektive zu einer Erfolgsgeschichte zu entwickeln scheint.

Kurzer historischer Rückblick

Das Assoziationsabkommen von Ankara und das am 1. Januar 1973 in Kraft getretene Zusatzprotokoll sahen ein bestimmtes Datum für die Zollunion vor: In einem Zeitrahmen von 22 Jahren sollte die schrittweise Errichtung der Zollunion stattfinden, was sowohl eine Vorbereitungsphase sowie auch eine Übergangs- und Abschlussphase vorsah. Zudem war vorgesehen, dass die EU die türkische Wirtschaft forciert unterstützen würde.

Im Laufe der Zeit erweiterte sich die EU, die mit sechs Mitgliedsstaaten gestartet war. 1973 wurden England, Irland und Dänemark, 1981 Griechenland und 1986 Spanien und Portugal Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft. 1995 folgte der Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens. Mit der Erweiterung wuchs die Beitrittsproblematik um die Türkei.

Mit den neuen Mitgliedsländern der EU wurden auch die bilateralen Aspekte in den Beziehungen mit den einzelnen Staaten verstärkt in die EU-Türkei-Beziehungen getragen. Die Mitgliedschaft in der EU verführte einige EU-Staaten, dies als Druckmittel gegen die Türkei zu nutzen. Dies galt insbesondere für Griechenland. Jedoch scheint die Regierung Simitis/Papandreou eine Kehrtwende zu vollziehen. Diese Verzögerungen und die zunehmende Ausgrenzung der Türkei durch die EU, führten zu Konflikten, welche die EU-Türkei-Beziehungen in eine Krise stürzten und teilweise zum Abbruch der Kontakte führten.

Während der Erweiterungsphase gewann der Plan der EU, einen Binnenmarkt in Europa zu schaffen und eine Währungsunion zu initiieren, gegenüber der Lösung anderer Probleme zunehmend an Priorität. Diese Prioritätensetzung hatte zur Folge, dass die Beziehungen zur Türkei in den Hintergrund traten. Der EU-Ministerrat begründete die Ablehnung einer Mitgliedschaft der Türkei damit, dass bis 1993 generell keine Mitgliedschaftsgespräche geführt werden konnten.

Die Pläne für die EU-Erweiterung wurden erstmalig im Dezember 1994 auf dem Gipfeltreffen in Essen bekannt gegeben. Gemäß diesen Plänen war die Türkei für die nächste Erweiterungsrunde nicht vorgesehen. Auf dem Luxemburger Gipfeltreffen, bei dem die von der Kommission vorgeschlagene Agenda 2000 angenommen wurde, wurde die Möglichkeit einer Vollmitgliedschaft der Türkei auf unbestimmte Zeit verschoben: Die Türkei wurde nicht auf die Liste der Beitrittskandidaten aufgenommen.

Mit besonderer Verbitterung wurde in Ankara registriert, dass Staaten wie Rumänien oder Bulgarien, die nach einer verbreiteten Einschätzung in der Türkei weder wirtschaftlich noch politisch die türkische Reife erreicht hatten, nun Kandidaten waren, die Türkei aber nicht.

Zudem wurden Stimmen aus europäischen Regierungen bekannt, die Türkei könne ungeachtet der noch zu erreichenden wirtschaftlichen und politischen Fortschritte niemals Mitglied der EU werden, weil sie als islamisches Land nicht in eine christlich fundierte Gemeinschaft passe. Helmut Kohl beispielsweise wurde mit den Worten zitiert, ihm sei nicht bekannt, dass Anatolien in Europa liege.

Zusammen mit der Tatsache, dass die Haltung der EU nicht in Einklang zu bringen war mit den oben genannten vertraglichen Verpflichtungen, führte dies zu einer nachhaltigen Frustration der türkischen Öffentlichkeit. Die Rechtslage und die politische Lage wurden immer weniger miteinander vereinbar.

Die unterlassenen Finanzhilfen für die Türkei

Ein weiteres wichtiges Thema zwischen der Türkei und der EU sind die Finanzhilfen, die gemäß dem Zusatzprotokoll aus der Zollunionsvereinbarung an die Türkei hätten gezahlt werden müssen. Diese Verpflichtungen wurden aber aufgrund des griechischen Vetos nicht eingehalten. Auch hier scheint sich nach dem Gipfeltreffen von Helsinki ein Richtungswechsel in Athen anzubahnen.

Der Zypern-Konflikt

Die Aufnahme der Gespräche über eine Mitgliedschaft Zyperns in die EU stellt ebenfalls ein Problem zwischen der EU und der Türkei dar. Die Türkei geht davon aus, die Aufnahme der Gespräche über eine Mitgliedschaft Zyperns erschwere die Lösung der Zypernfrage. Die Einstellung der Türkei, eine Vollmitgliedschaft Zyperns könne vor der Lösung des Zypernkonfliktes realisiert werden, wird von einigen Staaten zur Kenntnis genommen.

Der Beginn der Verhandlungen mit Zypern stellt eine weitere Belastung für die Beziehungen der Türkei zur EU dar. In der Türkei besteht die Befürchtung, dass mit einer einseitigen Aufnahme Griechisch-Zyperns, durch die Mitgliedschaft Griechenlands in der EU und dem Prinzip der Niederlassungsfreiheit in der Union es zu einer faktischen Vereinigung Zyperns und Griechenlands kommen würde und die türkische Minderheit auf Zypern von einem Staatsvolk zu einer allenfalls geduldeten Minderheit werden würde.

Eine Mitgliedschaft Zyperns in der EU wird in der Türkei als eine legalisierte Enosis (Vereinigung mit dem Mutterland) durch die Hintertür interpretiert. In Helsinki wurde diesbezüglich mit einigem diplomatischem Geschick eine Formulierung getroffen, so dass der Rat über den Beitritt beschließen werde, falls bis zum Abschluss der Beitrittsverhandlungen keine Lösung erreicht wird, ohne dass eine politische Lösung eine Vorbedingung darstelle.

Dieser Punkt zählt zu den Zugeständnissen, die die EU an das Mitgliedsland Griechenland machte, als Gegenleistung seines nicht eingesetzten Vetorechtes zur Anerkennung der Türkei als Kandidatin. Ob Zypern in der Tat in absehbarer Zeit Mitglied werden kann, bleibt abzuwarten.

Verzögerungen, die von türkischer Seite hervorgerufen wurden

Seit dem Assoziationsabkommen von Ankara wurden die Beziehungen zwischen der Union und der Türkei durch drei Militärinterventionen stark beeinträchtigt. Die Folgen der Militärinterventionen und die daraus resultierende mäßig ausgestattete Struktur der Demokratie sind die vorwiegenden Hindernisse für eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU. Als ein Hindernis auf dem Weg nach Europa stellt sich die noch immer schwach ausgebildete Zivilgesellschaft dar. Auch dies ist eine Folge der Verfassung von 1983, die noch die Handschrift des Militärs trägt.

Die Kriterien von Kopenhagen

Das größte Hindernis für eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU stellt die Erfüllung der Kriterien von Kopenhagen dar. Die Kopenhagener Kriterien können wie folgt zusammengefasst werden:

- Die institutionelle Stabilität; demokratische und rechtstaatliche Ordnung; Einhaltung der Menschenrechte und Minderheitenschutz.

- Eine funktionierende Marktwirtschaft sowie Konkurrenzfähigkeit auf dem europäischen Markt.

- Die Übernahme der Verantwortungen, die sich aus einer Vollmitgliedschaft ergeben, wie die Bejahung der wirtschaftlichen und politischen Zielsetzungen.

Die Einhaltung dieser Kriterien soll und darf für die Türkei kein Problem darstellen. Die Türkei erklärte mehrfach, dass sie bereit ist, die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen und in der Menschenrechtsfrage bestrebt ist, eine adäquate Entwicklung zu forcieren. Eine konkrete Zeitplanung bezüglich der Erfüllung dieser Kriterien würde die Beziehung zwischen den beiden Partnern zweifellos positiv beeinflussen.

Zur Zeit regiert in Ankara eine stabile Drei-Parteien-Koalition, die über eine breite Mehrheit im Parlament verfügt. Dies dürfte die zwingend notwendigen Reformen erleichtern. So steht die Abschaffung der Todesstrafe unmittelbar bevor. Auch gibt es erste Erklärungen aus der türkischen Regierungen, kurdische TV- und Radiosender zuzulassen.

Nachdem in Deutschland die christlich-demokratische Regierung nach sechzehn Jahren Regierungszeit eine Wahlniederlage erlitten hat und die sozialdemokratischen Regierungen in der EU generell an Bedeutung gewonnen, wurde das Verständnis einer Europäischen Union, die sich primär an der christlich-abendländischen Kultur orientiert, in den Hintergrund gedrängt. Die Neuorientierung in der EU ermöglicht heute einen neuen Dialogaufbau zwischen der Türkei und der EU. Aber diese Möglichkeit besagt nicht, dass die Probleme zwischen der EU und der Türkei auf einen Schlag beseitigt werden können.

Die fünf Säulen der Türkei-EU-Beziehungen

Eine potenzielle Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU würde in erster Linie in fünf Bereichen Veränderungen für die EU und die Türkei bringen. Diese kann man als die fünf Säulen der Türkei-EU-Beziehungen bezeichnen: Vertretung der Türkei im Europäischen Parlament, Vertretung in EU-Organen, finanzielle Zusammenarbeit, Zollunion für alle Produkte (bisher gilt die Zollunion nur im Bereich der Industriegüter) und schließlich die Freizügigkeit der Arbeitnehmer.

Die Vertretung der Türkei im Europäischen Parlament

Zur Zeit gibt es im Parlament acht verschiedene Fraktionen mit 626 Europaabgeordneten. Man kann davon ausgehen, dass die Türkei, im Falle einer Vollmitgliedschaft, aufgrund ihrer 63 Millionen Einwohner durch 87 Abgeordnete im Europäischen Parlament vertreten werden würde. Dies wird offiziell nicht zur Sprache gebracht, aber diese Tatsache beunruhigt einige politische Kreise in Brüssel und Straßburg. Es wird befürchtet, diese Abgeordneten würden durch ihre große Zahl die politische Statik im Europäischen Parlament einstürzen lassen. Zudem besteht die Einschätzung, dass türkische Parlamentarier im EU-Parlament als Block auftreten würden. Dies ist jedoch eine irrige Annahme: Im Gegenteil: Die Türkei besitzt ein vielfältiges politisches Spektrum, das in der EU wahrscheinlich zu einer Zunahme der Fraktionen führen würde.

Die Vertretung der Türkei in den EU-Organen

Außer den 87 Abgeordneten für das Europäische Parlament muss die Türkei im Falle einer Vollmitgliedschaft auch in den EU-Organen vertreten werden. Es gibt keine Richtlinien über die Anzahl der Experten in den EU-Organen. Zur Zeit gibt es in der EU zwanzig Kommissariate.

Jeder größere Mitgliedsstaat stellt zwei Kommissare, die kleineren Staaten besitzen jeweils ein Kommissariat. Auf dem Gipfeltreffen in Amsterdam wurde jedoch über die Anzahl der Kommissare in den einzelnen Mitgliedsstaaten diskutiert. Eine Lösung bestand darin, ein Rotationsprinzip zu entwerfen, d. h. kleine Staaten sollen im Wechsel ihr Kommissariat an andere Staaten abgeben. Im Falle einer Mitgliedschaft würde die Türkei nach diesem bis dato noch nicht realisierten Prinzip ein Kommissariat erhalten.

Es steht außer Frage, dass die Türkei in den Organen der EU nicht die Position erhalten wird, wie es ihr im Vergleich zu den anderen Staaten zustehen würde. Nach der derzeitigen Regelung spielen die Forderungen und Vorbereitungen der Staaten eine wichtige Rolle. Hinzu kommt die Vertretung der Türkei im Rat. Dort dürfte der Stimmenanteil der Türkei im Falle ihrer Mitgliedschaft 8 bis 10 betragen.

Finanzielle Aspekte eines türkischen EU-Beitritts

Eine der Thesen, die gegen eine Vollmitgliedschaft der Türkei sprechen, sei ihre Belastung für die EU-Wirtschaft. Diese Befürchtungen werden durch Forschungen des Zentrums für Türkeistudien (ZfT) widerlegt. Nach den Berechnungen des Zentrums für Türkeistudien geht deutlich hervor, dass die Türkei für die Union keine erhebliche Wirtschaftsbelastung darstellen wird.

Auf der Grundlage der Studie des Deutschen Industrie- und Handelstags für die osteuropäischen Staaten berechnete das ZfT, dass, im Falle einer Vollmitgliedschaft im Jahre 1996, die Türkei aus den Strukturfonds 4 Milliarden ECU erhalten hätte. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Mitgliedsstaaten 53,7 % aus dem Landwirtschaftsfonds und aus anderen Töpfen 6,2 % zurückbekommen, belaufen sich die Subventionen aus allen Fonds für die Türkei auf insgesamt 11,7 Milliarden ECU. Aufgrund der geringen Einfuhr landwirtschaftlicher Produkte hätte die Türkei 1996 Zolleinnahmen von 613,9 Millionen ECU erzielt, die in die EU-Kasse zurückgeflossen wären.

Unter der Annahme einer Vollmitgliedschaft im Jahr 1996 hätte die Türkei zudem 815,4 Millionen ECU an Mehrwertsteuern in die EU-Kassen zahlen müssen. Zusätzlich hätte die Türkei, bei einer Bemessungsgrundlage von 3,2 % Mehrwertsteuer-Eigenmitteleinnahmen in Höhe von 473 Millionen ECU an die EU-Kasse entrichten müssen. Unter der Prämisse, dass sich die türkische Agrarwirtschaft stabil hält, müsste die Türkei Zollsteuern auf Agrarprodukte und Zuckerabgaben in Höhe von 36 Millionen an die EU zahlen.

Nach den Berechnungen für das Jahr 1996 hätte die Türkei insgesamt 1,938 Mrd. ECU in die EU-Kassen einzahlen müssen. (. . .)

Die Zollunion

Trotz aller Kontroversen mit der EU erfüllte die Türkei den vorgegebenen Zeitplan für die Zollunion. Der Beitritt der Türkei in die Zollunion konnte nur aufgrund der Beharrlichkeit der Türkei realisiert werden. Der Grund hierfür lag darin, dass die Türkei durch die Zollunion eine langfristige potenzielle Vollmitgliedschaftsperspektive sicherstellen wollte. Obwohl die Zollunion mittel- und langfristig gesehen einen Nachteil für die Türkei darstellt, nahm sie den beschwerlichen Weg auf sich, ihre Absichten hinsichtlich der EU-Mitgliedschaft durchzusetzen. Die türkische Wirtschaft erlitt auch nicht die befürchteten Schäden durch die Zollunion.

Die Zollunion zwischen der Türkei und der EU ist seit dem 1.1.1996 in Kraft. Die Zollunion mit der EU bedeutet für die Türkei, dass Zölle und zollähnliche Abgaben gegenseitig vollumfänglich abgebaut sind und die Türkei gegenüber Drittländern den gemeinsamen Außenhandelstarif der EU anwendet. In diesem Zusammenhang unterzeichnete die Türkei bereits mit neun Ländern (Israel, Ungarn, Rumänien, Litauen, Tschechien, Slowakei, Estland, Lettland und Slowenien) Freihandelsabkommen. Mit Bulgarien und Polen dauern die diesbezüglichen Verhandlungen derzeit noch an. Darüber hinaus wurden bis dahin gegenüber 52 Ländern angewendeter nicht-tarifärer Importbeschränkungen im Textilbereich auf 40 Länder reduziert. Die Zollunion zwischen der EU und der Türkei betrifft lediglich Industriegüter. Die landwirtschaftlichen Erzeugnisse bleiben vorerst außerhalb des Anwendungsbereichs der Zollunion.

Da die EU - abgesehen von einigen Ausnahmen - die Zölle für die türkischen Industriegüter bereits bis 1971 abgebaut hatte, kann die Türkei seither ihre Waren zollfrei in die EU einführen. Eine wesentliche Ausnahme bildeten die Textilerzeugnisse, deren Import seitens der EU bis zur Realisierung der Zollunion kontingentiert worden war. Als Folge davon ist seit Errichtung der Endstufe der Zollunion für die Türkei lediglich eine Verbesserung im Bereich der nunmehr zollfreien Textilexporte eingetreten.

Im Unterschied hierzu hat sich die Importsituation der Türkei entscheidend verändert, da die EU-Erzeugnisse seit der Vollendung der Zollunion die türkischen Grenzen zollfrei passieren. Das bedeutet für die Türkei zugleich, dass auch die Zolleinnahmen der Türkei für die Waren aus den EU-Staaten wegfallen. Es wird geschätzt, dass der jährliche Einnahmeausfall für den türkischen Haushalt etwa 2,6 Mrd. $ beträgt. Seit der Zollunion entspricht dies einer Summe von rund 8 Mrd. $.

Die Vollendung der Zollunion hat sich unverzüglich in einer signifikanten Passivierung der türkischen Zahlungsbilanz ausgewirkt. Die türkischen Importe aus den EU-Staaten sind nach 1996 rapide gestiegen, während die Wachstumsraten der Exporte relativ gering ausfielen. Die Zuwachsrate der türkischen Importe betrug im ersten Jahr der Zollunion 34,6 %, während der Anstieg der Exporte bei 3,7 % lag. Die überproportionale Zunahme der Importe ist u. a. auch darauf zurückzuführen, dass die türkischen Betriebe, insbesondere aus dem Textilbereich, zur Erhöhung ihrer Wettbewerbsfähigkeit bzw. zur Erweiterung ihrer Produktionskapazität verstärkt Anlageinvestitionen tätigten, die überwiegend durch Importe aus EU-Staaten beliefert wurden. Gesamtwirtschaftlich gesehen haben diese zwar kurzfristige negative Auswirkungen in der Handelsbilanz, sie werden sich jedoch langfristig rentieren und stellen eine Zukunftsinvestition dar.

Der Anteil der EU an Importen der Türkei stieg von 1995 47,2 % auf 51,2 % (24 Mrd. $) in 1998, während die türkischen Exporte in die EU im gleichen Zeitraum von 51,2 % auf 46,6 % (13,3 Mrd. $) schrumpften. Im Außenhandelsgeschäft mit der Türkei erzielte die EU nach der Zollunion bis zum Ende 1998 einen Überschuss in Höhe von 31,8 Mrd. $.

Für den Textilsektor, der als der wettbewerbsfähigste und wichtigste Industriebereich der Türkei gilt, rechnete man in der Türkei nach dem Wegfall der EU-Kontingente durch die Zollunion mit einem Exportboom. Der erwartete Exportanstieg in diesem Bereich blieb jedoch aus. Faktoren wie die rezessionsbedingte Abnahme der Textil- und Konfektionsnachfrage im wichtigsten Abnehmerland Deutschland, aber auch der unrealistisch hohe Kurs der türkischen Lira sind die Ursachen für das Ausbleiben des erwarteten Anstiegs. (. . .)

Eine weitere Auswirkung der Zollunion besteht darin, dass die türkische Industrie nunmehr auch im Inland in unmittelbarem Wettbewerb mit europäischen Produkten steht, weil der bis dahin bestehende Zollschutz nun völlig weggefallen ist. Auch wenn es heute etwas verfrüht ist, eine gesicherte Aussage zu treffen, so ist es dennoch zumindest bemerkenswert, dass infolge des nun zweiseitigen Freihandels bisher keine tiefgreifenden negativen Strukturveränderungen in der türkischen Wirtschaft zu beobachten sind.

Freizügigkeit

Im Falle einer Vollmitgliedschaft der Türkei befürchten die EU-Staaten, die Freizügigkeit könnte ein weiteres Ansteigen der Arbeitslosenzahlen in Europa nach sich ziehen. Bundeskanzler Gerhard Schröder vertritt die These, dass nur eine neue Einwanderungspolitik die Probleme, die durch die Freizügigkeit hervorgerufen werden, dämpfen kann. Die Türkei deutete bereits vor zwei Jahren ihre Bereitschaft an, in diesem Punkt durchaus den Forderungen der EU entgegenzukommen; das Recht auf Freizügigkeit im Falle einer Vollmitgliedschaft der Türkei könne bis auf weiteres verschoben werden. Bei einer Arbeitslosenquote von zirka 24 % unter den türkischen Arbeitnehmern in der Bundesrepublik wäre ein solcher Schritt für beide Seiten zu begrüßen.

Neue Perspektiven für die Türkei nach dem Gipfel von Helsinki

Es bleibt abzuwarten, wie die türkische Regierung mit den Beschlüssen von Helsinki umgeht. Zur Zeit befindet sich das Land am Bosporus in einer Phase der Europa-Euphorie. Entscheidend ist nun die Reformbereitschaft und das Reformtempo in Ankara. Diese werden bestimmend sein für die Qualität der türkisch-deutschen Beziehungen einerseits und die türkisch-europäischen Beziehungen andererseits. Voraussetzung ist selbstverständlich, dass die EU sich an die eigenen Beschlüsse von Helsinki hält und nicht insgeheim auf Zeit spielt. Dies wäre ein gefährliches Spiel, hängt doch vom Gelingen des türkischen EU-Projektes die Stabilität einer strategisch sensiblen Region ab.

Die türkisch-europäischen Beziehungen würden einen irreparablen Schaden erleiden. Eine wohltuend konstruktive Rolle spielt in diesem Prozess die neue Bundesregierung mit Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer an der Spitze, die frei von religiöser und kultureller Argumentation das Verhältnis zur Türkei in den letzen 15 Monaten entscheidend verbessern konnten.