Süddeutsche Zeitung, 14.12.1999

Beilage

Gesucht: Ausländisches Kapital

Die halbherzige Privatisierungspolitik hat Investoren bisher abgeschreckt - eine Reihe neuer Gesetze könnte das bald ändern

Die Türkei erwartet für das Jahr 2000 eine Welle ausländischer Direktinvestitionen. In den kommenden sechs Jahren könnten bis zu 100 Mrd. US-Dollar ins Land strömen, prognostiziert Abdurrahman Ariman, Generalsekretär des Verbands der Auslandsinvestoren YASED. Davon sei die Hälfte für US-amerikanische Energieprojekte bestimmt.

In den zurück liegenden Jahren ähnelten die Kapitalzuflüsse in die Türkei einem Rinnsal. Von 1990 bis 1998 registrierte die OECD für die Türkei 7 Mrd. Dollar Auslandsinvestitionen, während andere aufstrebende Märkte wie Ungarn 17 Mrd. und Polen 23 Mrd. Dollar anzogen. Unter den OECD-Staaten verbuchte nur Island weniger ausländisches Kapital. Die halbherzige türkische Privatisierungspolitik ist eine Ursache für das schwache Ergebnis. Hohe Inflationsraten und häufige Regierungswechsel macht Faruk Yöneyman, Geschäftsführer der türkischen Roche-Niederlassung und Vorstandsvorsitzender von YASED, für das geringe Interesse ausländischer Firmen verantwortlich.

In beiden Punkten zeichnet sich zum Jahreswechsel Besserung ab. Seit April 1999 ist mit Ministerpräsident Bülent Ecevit eine stabile und reformbereite Regierung im Amt. Das neue Parlament hat im Eilverfahren Gesetze zum Finanzsektor und zur Privatisierung verabschiedet, die seit Jahren auf der Tagesordnung standen. Weitere Reformen, darunter ein neues Investitionsgesetz, sind angekündigt.

Konsumfreudige Bevölkerung

Die Türkei braucht ausländisches Kapital. Unter einer drückenden Last von Zins- und Schuldenzahlungen fehlt dem Staat das Geld, um die expandierende Industrie und die konsumfreudige Bevölkerung mit Elektrizität, Straßen, Flugzeugen, Telefonleitungen und Kläranlagen zu versorgen. Ohne private Initiative ist auch das Problem der Jugendarbeitslosigkeit nicht zu packen. Mit 65 Millionen Einwohnern, einem Durchschnittsalter von 27 Jahren und einer Kaufkraft von 6383 Dollar gehört die Türkei laut OECD zu den wichtigsten Wachstumsländern des 21. Jahrhunderts. Ob Autos, Elektrizität oder Schokolade: Bei vielen Produkten besteht Nachholbedarf.

Das US-Außenministerium führt die Türkei in der Liste der zehn aussichtsreichsten jungen Märkte. Im Gegensatz zu Russland, Südostasien und Brasilien blieb das Land von den Währungskrisen der letzten Jahre weitgehend verschont. Die offiziellen türkischen Wirtschaftsdaten vermitteln ein unvollständiges Bild des Potenzials. Denn mindestens die Hälfte des Bruttosozialprodukts entsteht in der Schattenwirtschaft und ist daher statistisch nicht erfasst.

Ausländische Firmen sitzen bereits in den Startlöchern. Yöneyman schätzt, dass im kommenden Jahr neue Niederlassungen und Joint Ventures im Wert von 3 Mrd. Dollar zustande kommen. Die Gründe liegen auf der Hand: Die Produktionskosten der Türkei sind im europäischen Vergleich gering. Das gesetzliche Mindestgehalt liegt bei umgerechnet etwa 400 Mark. Firmen, die in der Türkei registriert sind, nutzen die selben staatlichen Fördermittel wie türkische Investoren. Dazu gehören Zoll- und Steuerbefreiungen, Sonderabschreibungen und kostenloser Baugrund. Und die Mitgliedschaft der Türkei in der europäischen Zollunion ermöglicht zollfreie Exporte in den Binnenmarkt.

Deutsche Unternehmen schätzen die Türkei sehr unterschiedlich ein. Firmen mit einer Niederlassung in der Türkei - Ende 1999 waren es etwa 800 - bewerten die Geschäftsmöglichkeiten mehrheitlich mit "sehr gut". Eine Umfrage der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer in Istanbul im November 1999 ergab, dass knapp 90 Prozent der Unternehmen aus heutiger Sicht wieder in der Türkei investieren würden. Sie sehen in dem Land einen dynamischen Wachstumsmarkt und strategischen Platz zwischen Balkan, Zentralasien und Nahem Osten. Kammergeschäftsführer Marc Landau nennt das Land ein "verkanntes Investitionsparadies". Doch Unternehmen ohne Türkei-Erfahrung halten sich zurück. In der Statistik spiegelt sich dies in dem sinkenden Anteil von Erstinvestoren. 1994 waren es 40 Prozent der genehmigten Investitionen. Ende der 90-er Jahre schrumpfte ihr Anteil auf ein Zehntel. Unter den Neulingen war die Bekleidungsfirma Boss, die im Oktober 1999 in Izmir einen Nähereibetrieb mit 900 Arbeitsplätzen einrichtete. 1997 eröffneten Honda und Hyundai Werke in der Türkei. Eine Kfz-Fabrik von Ford und der Koc Holding im Wert von 550 Mio. Dollar wird zur Zeit in Izmit gebaut. Zu den "Landeskennern", die seit vielen Jahren in der Türkei produzieren, gehören Konzerne wie Siemens, BASF, Bayer, Hoechst und Mannesmann. Die Metro-Gruppe überzieht das Land mit Einkaufszentren. Saarberg schürft in Mittelanatolien Braunkohle, und Daimler Chrysler fertigt in Istanbul Reisebusse für den Weltmarkt.

Neue Mobilfunknetze

Unter den 500 größten ausländischen Gesellschaften und Joint Ventures stellen deutsche Kapitalgeber mit 85 Firmen und einem Kapitalanteil von 15 Prozent die größte Einzelgruppe. Andere wichtige Investitionsländer wie Frankreich, die USA, Großbritannien, Schweden, Italien und die Niederlande vereinnahmen zusammen 30 Prozent des Auslandskapitals.

Insgesamt genehmigte das Staatssekretariat für Außenhandel seit Beginn der Liberalisierungspolitik 1980 Investitionen im Wert von 25 Mrd. Dollar. Weniger als die Hälfte davon wurde realisiert. Etwa ein Fünftel der ausländischen Investitionen sind in Banken, ein Zehntel in der Kfz-Industrie angelegt. Bei der Privatisierung will Ankara den Rückstand zu anderen aufstrebenden Märkten aufholen. Im Jahr 2000 soll durch den Verkauf von Staatsbetrieben 4,5 Mrd. Dollar herein kommen. Dies entspricht etwa dem Wert aller Privatisierungen seit Beginn des Programms 1980. Ugur Bayar, der Leiter des Privatisierungsamts, hat in seinem Portefeuille den Festnetzmonopolisten Türk Telekom, die Fluggesellschaft THY, die Raffinerien von Tüpras, den Petrochemieproduzenten Pektim und zwei Stahlwerke. Außerdem werden Betreiber für zwei neue Mobilfunknetze gesucht. Als Investitionspartner stehen auf türkischer Seite Unternehmen bereit, die Erfahrung auf dem Weltmarkt haben. Neben Koc sind dies z.B. Sabanci, Vestel oder Sahinler Holding. Sie gehören mittlerweise zu den wichtigsten Lieferanten von Kühlschränken, Fernsehgeräten, Bekleidung oder Kfz-Teilen der EU.

Eric Czotscher

Der Autor ist Korrespondent der Bundesstelle für Außenhandelsinformation in Istanbul.