Tagblatt (CH), 14.12.1999

«Endlich sind wir Europäer»

Die Europäische Union und die Türkei stehen am Anfang eines langen Weges

Seit Samstag ist die Türkei Beitrittskandidatin der Europäischen Union. Dieser Entscheid beantwortet die Frage, ob die Türkei ein europäisches Land ist, noch nicht.

Walter Brehm

Die Hindernisse für eine Aufnahme der Türkei in die EU sind schnell aufgezählt: die mangelhafte Einhaltung der Menschenrechte, der für einen Rechtsstaat unverhältnismässig grosse Einfluss der Armee, der auf militärische und wirtschaftliche Mittel reduzierte Lösungsansatz des Kurden-Problems, die Konflikte mit dem EU-Staat Griechenland und das ungeklärte Verhältnis zwischen Staat und Religion. Daneben gibt es aber mindestens einen guten Grund zu versuchen, die Türkei in die EU zu integrieren: Der Abbau aller Hindernisse lässt sich mit der Beitrittsperspektive besser fördern als ohne sie. Die türkische Boulevardzeitung «Sabah» reagierte mit dem euphorischen Titel: «Endlich sind wir Europäer». Die Berliner «Tageszeitung» hält dagegen: «Dass muss sich noch zeigen.»

Schwierige Vorzeichen

Wer zu Europa gehört, ist nicht einmal geografisch leicht zu bestimmen. In Europa leben und Europäer zu sein, ist zudem nicht dasselbe. Dies ist eines der schwierigen Vorzeichen für den langen Weg beider Seiten, bis sich entscheidet, ob die Türkei Europas Brückenkopf nach Asien sein kann - oder ob es sich vielleicht doch umgekehrt verhält. Neben den euphorischen Stimmen aus Helsinki und Ankara - «ein historischer Entscheid» - gibt es auch viel Skepsis. In Deutschland, dem wichtigsten Land türkischer Migration in die EU, erklärte CSU-Sprecher Michael Glos, der Helsinki-Beschluss sei eine «krasse Fehlentscheidung». In der EU müsse eine Grundsatzdebatte über die Grenzen Europas geführt werden. Und der bayrische Konservative fordert nicht etwa ein Geografie-Kolloquium: «Es gilt, neben politischen und wirtschaftlichen Kriterien die kulturelle, religiöse und historische Dimension zu betrachten.» In Ankara sind nicht minder skeptische Stimmen zu hören. Sie fragen, ob der Helsinki-Beschluss eine neue, perfide EU-Strategie sei, die Türkei zu schwächen. Soll es Antworten auf diese Fragen geben, muss für Befürworter und Kritiker des Helsinki-Beschlusses gelten: Europäer zu sein bedeutet im Sinne der Aufklärung auch, sich und das eigene Weltbild immer wieder in Frage zu stellen. Und da hat die Türkei Forderungen zu akzeptieren, welche sie bisher als Einmischung in innere Angelegenheiten zurückwies.

Zurück in die Kasernen

Europäer im Sinne der EU-Kriterien zu sein, bedeutet vor allem die Aufgabe nationaler Souveränitätsrechte. Da wird es Forderungen geben, die Ankara entgegenkommen, weil sie überfällige Reformen mit dem Hinweis auf Europa erleichtern. So kann der Konzession, das Todesurteil gegen Kurden-Führer Öcalan nicht zu vollstrecken, die Abschaffung der Todesstrafe überhaupt folgen. Kritischer wird die Anpassung an EU-Recht für die türkische Armee: Nahm sich der Nationale Sicherheitsrat bis anhin das Recht, über die Tätigkeit gewählter Regierungen zu richten, kann seine Funktion künftig höchstens noch eine beratende sein. Die Alternative, der sich die türkische Armee stellen muss, heisst: Die Ära der offenen oder verdeckten Staatsstreiche ist vorbei, oder der Weg nach ist Europa verbaut. Alle diese politischen Probleme werden zudem von der religiösen Frage überlagert.

Islam und Demokratie

Der Chef der islamistischen Tugendpartei hat mit seiner Freude über den Helsinki-Entscheid nur eine Seite der Medaille angesprochen: «Eine Türkei, die politische Parteien verbietet, wird nie in die EU aufgenommen.» Wohl wahr. Aber hat Recai Kutan auch verstanden, dass gleiches für eine Türkei gälte, in der eine Partei regiert, die Religion zur Staatsraison erklärt? So sehr sich türkische Moslems von der Europäisierung Religionsfreiheit erhoffen können, ist diese an den Verzicht auf den «Gottesstaat» gebunden. Europas Herausforderung wird sein, Religionsfreiheit über die Duldung nicht-christlicher Religionsgemeinschaften in einer Union des christlichen Abendlandes zu realisieren. Der Beweis, dass Islam und Demokratie keine Antipoden sein müssen, wäre ein historischer Schritt, der weit über Europa hinaus wirkte. In jedem Fall hat «Helsinki» eine Entwicklung ausgelöst, die sich auf das Innenleben der Türkei und auch jenes der EU auswirken wird.