Süddeutsche Zeitung, 14.12.1999

Beilage

Der Durchbruch von Helsinki

Europa liegt doch näher als bisher geglaubt

Mit dem EU-Kandidatenstatus steht Ankara aber noch ein langer und schwieriger Weg nach Brüssel bevor

Es ist vollbracht: Die Türkei hat es in den begehrten Kreis der EU-Beitrittskandidaten geschafft. Die 15 Mitgliedsländer konnten sich vergangene Woche bei ihrem Gipfeltreffen in Helsinki zu dieser lange umstrittenen Entscheidung durchringen. Der türkische Premier Bülent Ecevit reiste nach erstem Zögern nach Finnland, um das Beitrittsangebot anzunehmen. In der Türkei jubelten die Medien, doch in Berlin und Brüssel reagierten Politiker mit Skepsis auf den Helsinki-Beschluss und kritisierten ihn unter anderem als "krasse Fehlentscheidung" (CSU-Landesgruppenchef Michael Glos). Das Verhältnis zwischen der Türkei und Europa beziehungsweise Deutschland bleibt also auf Weiteres ungeklärt. Gehört die Türkei zu Europa? Soll sie Mitglied der EU werden? Sind Türken in Deutschland Mitbürger oder Ausländer? Diese Fragen werden Türken und Deutsche auch in den kommenden Jahren noch beschäftigen. Dabei gibt es im deutsch-türkischen Verhältnis ein Ungleichgewicht zwischen den wirtschaftlichen Beziehungen auf der einen und den politischen auf der anderen Seite.

Hohe Inflation

Die Türkei zählt zu den zehn wichtigsten Handelspartnern der Europäischen Union. Mit seiner Bevölkerung von 64,7 Millionen Einwohnern, von denen 30 Prozent jünger als 15 Jahre sind, gehört das Land zu den interessantesten Märkten im Mittelmeerraum. Das gilt um so mehr, wenn es gelingt, die wirtschaftliche Dynamik des letzten Jahrzehnts aufrecht zu erhalten und die erheblichen Strukturdefizite - eine hohe Staatsverschuldung, eine abnorm hohe Inflation und ein immer noch großer staatlicher Wirtschaftssektor - zu beseitigen. Die seit Mai amtierende Regierung des Politikveteranen Bülent Ecevit, eine Drei-Parteien-Koalition aus stark national orientierten Sozialisten, populistisch orientierten Rechten und Wirtschaftsliberalen, hat erste mutige Schritte in Richtung Reformen unternommen. Doch dann hat die verheerende Erdbebenkatastrophe diese Bemühungen erst einmal gestoppt. Dennoch will man in Ankara die Wirtschaftsreformen mit Hilfe des IWF konsequent fortsetzen. Ein Erfolg dieser Politik würde das Land ein weiteres Stück an die EU heran rücken.

Seit 1996 ist eine Zollunion in Kraft, die alle Handelsschranken für den gewerblichen Warenverkehr zwischen den EU-Mitgliedern und der Türkei beseitigt hat. Für den Handel mit Eisen- und Stahlerzeugnissen existiert ein Freihandelsabkommen, bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen räumen sich beide Seiten gewisse Begünstigungen ein, und im Kapitalverkehr bestehen nur noch geringe Beschränkungen auf türkischer Seite. Die Zollunion hat die Ausrichtung der türkischen Wirtschaft auf den europäischen Markt konsolidiert: Gut die Hälfte des gesamten Außenhandels wird mit der EU abgewickelt, der größte Teil ausländischer Investitionen in der Türkei kommt aus Europa. Ein immer größerer Teil des Handels besteht im Austausch von Industrieprodukten. Die Europäer erzielen im Türkeihandel zwar einen erheblichen Überschuss (1998 etwa 10,5 Mrd. Dollar), aber die faktische Integration in die europäische Wirtschaft hat der Türkei auch geholfen, relativ problemlos mit der Asienkrise und der russischen Wirtschaftsschwäche fertig zu werden. Die Zollunion bewegte sich quasi im Windschatten der weltwirtschaftlichen Verwerfungen der letzten Jahre.

Stand und Perspektiven der europäisch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen sind also gut. Da verwundert es nicht, dass die Wirtschaftsvertreter beider Seiten zu den Hauptbefürwortern einer stärkeren Integration der Türkei in die EU gehören. Zwar konnte sich die Wirtschaft bisher relativ unbeeindruckt von den zahlreichen politischen Missstimmigkeiten entwickeln, aber ihre Repräsentanten in Istanbul, Köln, Mailand oder Paris sind davon überzeugt, dass es noch viel zu bewegen gibt, was nicht zuletzt durch die politischen Querelen der Vergangenheit zwischen Ankara, Bonn/Berlin und Brüssel blockiert wurde.

Alle Unstimmigkeiten kreisen letztlich um die Frage der türkischen EU-Mitgliedschaft. Weil im Assoziierungsabkommen von 1964, das auch die Grundlage für die Zollunion bildet, ein EU-Beitritt in Aussicht gestellt worden war, glaubten viele Türken einschließlich ihres Präsidenten, ihr Land habe ein Recht auf diesen Beitritt, das ihm von den Europäern jedoch mit immer neuen Ausreden vorenthalten werde. Hier ist man seit Helsinki also einen Schritt weiter. In EU-Kreisen herrscht dagegen immer noch die Meinung, die Türkei sei für eine EU-Mitgliedschaft politisch noch lange nicht reif. Man will ihr bei der Verbesserung der Beitrittsperspektive allerdings helfen und hat zu diesem Zweck eigens eine "Europastrategie" für die Türkei entworfen. Damit soll das Land in allen Bereichen allmählich EU-reif gemacht werden. Die Europastrategie zielt vorwiegend auf die wirtschaftlich-rechtlichen und technischen Aspekte einer Mitgliedschaft in der EU, die eigentlichen Hindernisse eines türkischen Beitritts sind aber politischer Natur. Hier kritisieren die Europäer insbesondere, dass Ankara von den europäischen Maßstäben bei Demokratie, Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz zu weit entfernt ist.

Weil sie auf der Sitzung des Europäischen Rates 1997 nicht zusammen mit zehn mittel- und osteuropäischen Staaten und Cypern als Beitrittskandidat akzeptiert worden war, hatte die türkische Regierung seitdem jedes Gespräch mit der EU über diese Streitfragen verärgert abgelehnt. Darüber hinaus hat sie alle europäischen Erklärungen hierzu als Einmischung in innere türkische Angelegenheiten zurückgewiesen. Im Streit mit Griechenland und in der Cypernfrage gilt Brüssel in Ankara sowieso als "Interessenvertreter Griechenlands".

Doch in den vergangenen Monaten bemüht sich Ankara darum, die Situation zu entschärfen. Mit Athen wurde auf Initiative beider Außenminister ein hochrangiger diplomatischer Dialog in Gang gesetzt, der sich zunächst auf unumstrittene Bereiche wie Tourismus, Kultur und Umwelt beschränkt. Beide Länder wollen aber auch bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens zusammen arbeiten. Das Klima dieser Gespräche hat von der spontanen griechischen Hilfsbereitschaft nach dem großen Erdbeben in der Westtürkei vom 17. August sehr profitiert, hat sich dadurch doch in der türkischen Öffentlichkeit das Bild des "griechischen Erzfeindes" geändert. Die enormen Erdbebenhilfen aus Europa könnten auch das Verhältniss zur EU verbessern. Das hat die Machthaber in Ankara wohl auch bewogen, den Präsidenten des türkischen Teils von Cypern, Rauf Raschid Denktasch, zur Wiederaufnahme von indirekten Gesprächen mit der griechischen Seite der Mittelmeerinsel zu veranlassen.

Auch an der innenpolitischen Front hat es vorsichtige Bewegungen in der neuen Regierung gegeben, der Kritik Europas an den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei den Wind aus den Segeln zu nehmen. So wurden unter anderem die Militärrichter aus den Staatssicherheitsgerichten entfernt, die Strafen für Folter verschärft, die Strafverfolgung von Beamten generell erleichtert und eine "Bewährungsamnestie" für Journalisten erlassen, die aufgrund von Presse- oder Rundfunkveröffentlichungen in Haft saßen. Doch ist in den wirklich kritischen Bereichen bisher kein Fortschritt zu erkennen: So wurde das Todesurteil für PKK-Führer Abdullah Öcalan am 25. November vom obersten Berufungsgericht bestätigt. Das neue Strafgesetzbuch, das auch die Abschaffung der Todesstrafe bringen würde, liegt im Parlament auf Eis. Ankara hat bisher auch nicht auf die "Kapitulation" der PKK reagiert, die ihren bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat für beendet erklärt hatte. Für die türkische Führung ist die Kurdenfrage nach wie vor ein Terroristenproblem. Der Einfluss der Militärführung ist dabei genauso ungebrochen wie im Kampf gegen den politischen Islam. Dem spricht der Staat trotz der Wahlerfolge der Tugendpartei weiterhin die Existenzberechtigung als politische Kraft ab.

Für Wirbel gesorgt

In diesem Klima gedeiht natürlich keine wirkliche Meinungsfreiheit, wie die fortgesetzte Strafverfolgung von Journalisten, Künstlern oder Menschenrechtlern mit dem Vorwurf der "separatistischen Propaganda" oder "der Anstachelung des Volkes zum Hass aus religiösen Gründen" belegt. Hoffnungsfroh stimmt in diesem Zusammenhang lediglich, dass die Stimmen aus der selbstbewusster werdenden Zivilgesellschaft nicht verstummen. Sie fordert einen grundlegenden politischen Wandel zur liberalen Demokratie, einschließlich einer Revision der Verfassung, die unter dem Einfluss des Militärs 1982 zustande gekommen ist. In diese Stimmen haben sich auch der Präsident des Verfassungsgerichtes und der Vorsitzende Richter am Kassationshof, der obersten Berufungsinstanz, eingereiht und damit für Wirbel gesorgt.

Wenn die Türkei in ihren Bemühungen um einen Beitritt zur Europäischen Union entscheidend vorankommen will, muss ihre politische Führung künftig diesen Stimmen mehr Bedeutung zumessen als jenen der hohen Generalität. Den türkischen Wirtschaftsführern wäre das nur recht.

Heinz Kramer

Der Autor ist wissenschaftlicher Referent für Türkeifragen bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.