junge Welt, 13.12.1999

Kommentar

Stunde der Heuchler

Kritik an der Türkei-Entscheidung in Helsinki.

Der Beschluß des EU-Gipfels in Helsinki, der Türkei den Status eines Beitrittskandidaten zu gewähren ist bei den nicht in Regierungsverantwortung stehenden Kräften in Deutschland auf harsche Kritik gestoßen. Die Vorwürfe der Regierenden von gestern reichen von »krasser Fehlentscheidung« bis zu »verlogener Außenpolitik«. Als hätte die Bundesrepublik je eine ehrliche Außenpolitik verfolgt.

Verlogen ist demnach auch nicht der Schmusekurs der kriegerischen Hüter der Menschenrechte gegenüber einem Staat, der vor dem Menschrechtsgerichtshof in Strasbourg die meisten Beschwerden zu verantworten hat, sondern, so Jürgen Koppelin (FDP), daß Rot-Grün dem NATO-Partner keine Panzer liefern wolle. Schließlich will sich die westliche Wertegemeinschaft auch in Kurdistan verteidigt wissen. Und gibt es einen zuverlässigeren Vorposten gegen ein unberechenbares Rußland als den waffenklirrenden Mann am Bosporus? Die krasse Fehlentscheidung von Helsinki besteht nach Meinung des CSU-Landesgruppenchefs darin, in der Türkei unrealistische Erwartungen geweckt zu haben.

Außerdem stehe die Entscheidung im Gegensatz zur Meinung der Bevölkerung. Fürchtet die das Entstehen eines türkischen Groß-Kreuzbergs im christlichen Abendland? Glos fordert deshalb eine grundsätzliche Debatte über die geografischen Grenzen der EU, wobei es vor allem die kulturelle und historische Dimension Europas zu betrachten gelte. Die zweimalige Belagerung Wiens durch die Osmanen ist tief eingeprägt im abendländischen Gedächtnis, nicht aber der Opfergang der Serben auf dem Amselfeld.

Rot-Grün erhofft sich hingegen vom Kandidatenstatus der Türkei eine schrittweise »Europäisierung« Kleinasiens. So als bestünde zwischen EU-Mitgliedschaft und Einhaltung der Menschenrechte ein Gleichheitszeichen. Daß die Herstellung EU-kompatibler Wirtschaftsdaten weitere soziale Regression und damit verbundene politische Repression zur Folge haben könnte, entzieht sich politisch korrektem Vorstellungsvermögen. Als entscheidendes Menschenrechtskriterium reklamiert wird von hiesigen Humanisten die Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei. Machte man dies weltweit zur Bedingung, dann wären die USA ein sicherer Ausschlußkandidat aus sämtlichen internationalen Institutionen. Denn nirgendwo wird dieses grausame Bestrafungsritual mit einer solch sadistischen Hingabe vollzogen wie in dem Land, das Anspruch auf den Besitz einer allgemeingültigen Moral erhebt.

Die Türkei als Trojanisches Pferd der USA in Europa - das verbindet Abdullah Öcalan mit Abu-Jamal.

Werner Pirker