Der Bund (CH), 13.12.1999

Türkei sieht sich als Vorreiterin gen Osten

EU / Mit knapper diplomatischer Not ist die Anerkennung der Türkei als EU-Kandidatin zustande gekommen, und schon denkt Ankara an künftige Erweiterung Richtung Kaukasus und Zentralasien. In der Union überwiegt der Wunsch, es mit den Beitrittskriterien genau zu nehmen und vorerst «eine Phase der Konsolidation» einzuschalten.

JOHANN AESCHLIMANN, HELSINKI

So gross wie die Samstagsrunde von Helsinki soll die Europäische Union dereinst werden: Neben den Staats- und Regierungschefs der 15 Mitgliedstaaten sassen am Mittagstisch im Messezentrum die Vertreter der sechs bisherigen Verhandlungspartner (Zypern, Tschechien, Polen, Ungarn, Estland, Slowenien), der sechs neuen (Malta, Lettland, Litauen, Slowakei, Rumänien, Bulgarien) sowie der neuen Kandidatin Türkei - insgesamt 28 Staaten.

Die Anwesenheit des türkischen Premierministers Bülent Ecevit wurde besonders hervorgehoben. Um sie sicherzustellen, waren am Freitag der Hohe Beauftragte Javier Solana sowie Erweiterungs-Kommissar Verheugen nach Ankara entsandt worden. US-Präsident Clinton wirkte per Telefon auf Ecevit ein.

Wie weit wird der Zaun?

In die historische Genugtuung mischte sich Nachdenklichkeit: Wenn die Türkei in die EU soll - wer dann auch noch ? Der Deutsche Schröder erklärte, es folge nun «eine Phase der Konsolidation». Der Luxemburger Juncker warnte vor einem Zerfliessen der Union in eine «gehobene Freihandelszone». Der Finne Lipponen gab zu bedenken, dass «der europäische Kontinent nicht dasselbe ist wie die EU». Der Franzose Chirac verwies darauf, die Türkei sei von «Geschichte und Ansprüchen her europäisch», alles weitere «eine abstrakte Frage». Ecevit denkt anders. «Unweigerlich» werde Europas Grenze sich «weiter nach Osten schieben, nach Aserbaidschan, in den Kaukasus und schliesslich nach Zentralasien», sagte er. Die Erhebung seines Landes zum EU-Kandidaten anerkenne ein «Geburtsrecht» und zeige, dass Westeuropa die «geostrategische Schlüsselrolle» der Türkei im «eurasischen Prozess» und damit ihr eigenes Interesse begriffen habe. Dies sei den USA früher klar geworden.

«So genannte Kurdenfrage»

Die Türkei sei ein demokratisches, säkulares Land mit muslimischer Mehrheit, und bald werde sie zum Umschlagplatz für das Erdöl des Kaukasus und des Kaspischen Meeres. «Wir anerkennen, dass wir hinsichtlich der Menschenrechte einiges zu verbessern und wirtschaftliche Mängel zu beheben haben», sagte Ecevit. Aber das «so genannte Kurdenproblem» werde «vom Ausland her in die Türkei hineingetragen». Ziel des Beschlusses von Helsinki ist es, die Türkei im europäischen Sinn zu verändern. Ein Gradmesser ist die Kurdenfrage, namentlich der Umgang mit dem Todesurteil gegen den Kurdenführer Abdullah Oecalan. Premier Lipponen wies darauf hin, dass die «Ehrfurcht vor dem Leben» zu den politischen Beitrittskriterien der EU gehöre. Ecevit beteuerte, seine Partei bemühe sich um die Abschaffung der Todesstrafe, sei damit aber beim Koalitionspartner nicht durchgedrungen.

Grenzstreit und Zypern

Der Schlüssel für die EU-interne Entscheidung über die Türkei lag bei Griechenland, das sowohl in der Frage des geteilten Zypern als auch bei der Grenzziehung in der Ägäis in ungelöstem Disput mit Ankara steht. Die Beschlüsse von Helsinki halten dazu fest, dass Grenzstreitigkeiten dem Internationalen Gerichtshof vorgelegt werden sollten, und dass die EU den Stand der Dinge im Jahr 2004 überprüfen werde. Dazu erklärte Ecevit, es sei für die Türkei «nicht akzeptierbar, dass die Lösung dieser Probleme eine Vorbedingung für den Beginn von Beitrittsverhandlungen» werde; im Disput mit Griechenland habe der Dialog der Aussenminister bereits mit gut begonnen. Zu Zypern besagen die EU-Beschlüsse, die politische Überwindung der Teilung sei zwar erstrebenswert, aber «keine Vorbedingung» für die Aufnahme der Insel in die Union. Die Türkei, deren Truppen seit 25 Jahren im Nordteil stehen, hat also kein «Vetorecht». Für Ecevit hat die einst von ihm befohlene Invasion eine «gesunde» Befriedung bewirkt.

Grosse oder kleine Reform?

Neben der Erweiterung hat der Europäische Rat in Helsinki auch ein Mandat für die im Februar beginnende EU-Regierungskonferenz formuliert. Sie soll bis Ende kommenden Jahres den Entscheidungsmechanismus im Ministerrat sowie die Zusammensetzung der EU-Kommission neu regeln. Bis Ende 2002 soll das Ratifikationsverfahren abgeschlossen sein, damit die Union für die Aufnahme neuer Mitglieder bereit ist. Romano Prodis weitergehende Vorschläge zur internen Reform sind nicht aufgenommen, aber auch nicht verworfen worden. Der Kommissionspräsident fordert, die EU-Verträge sollten leichter zu verändern sein und Flexibilitäts-klauseln enthalten. Diese würden in blockierten Situationen eine vertiefte Zusammenarbeit einiger - aber nicht aller - EU-Mitgliedstaaten ermöglichen.

Truppen mit und ohne Nato

aeb. Der EU-Gipfel hat auch die Bereitstellung von militärischen Krisenreaktions-Kräften beschlossen. Bis zum Jahre 2003 will die EU in der Lage sein, innerhalb zweier Monate 50 000 Soldaten in ein Krisengebiet zu verlegen. «Dieser Prozess impliziert nicht die Schaffung einer europäischen Armee», und «unnötige Doppelarbeit» mit der Nato soll vermieden werden.

Das EU-Konzept sieht «autonome» militärische Operationen «im Einklang mit den Grundsätzen der Uno-Charta» vor. Sie sollen sich auf Kommandostrukturen und militärische Mittel der Nato stützen, aber auch ohne die Allianz durchgeführt werden können. Entscheidungsgremium ist der EU-Ministerrat. Ob ein EU-Staat an einer Operation teilnimmt, bleibt in seiner «souveränen Entscheidung». Als Teilnehmer kommen auch nicht der EU angehörige Nato-Staaten und andere Länder, die sich um den Beitritt zur EU bewerben, in Frage. Die Türkei will aber «keine Befehle vom EU-Ministerrat entgegennehmen».