taz, 13.12.1999

Vorfreude ist die schönste Freude

Die Türkei ist seit Samstag Beitrittskandidatin für die Europäische Union. Obwohl noch niemand weiß, ob und wann sie tatsächlich aufgenommen wird, fürchten konservative Politiker in Deutschland bereits um die kulturelle Identität der Gemeinschaft. In der Türkei herrschen Aufbruchstimmung für die fälligen Reformen des Staates und Hoffnung auf mehr Demokratie. Reaktionen aus beiden Ländern

Der Türkei-Beschluss des EU-Gipfels war ein schwarzer Tag für die Konservativen in Deutschland. Bundeskanzler Gerhard Schröder und vor allem Außenminister Joschka Fischer haben mit ihrem Einsatz im Vorfeld der Helsinki-Konferenz den historischen Schritt nicht nur ermöglicht, sondern der Opposition ein lieb gewordenes Feindbild geraubt. Zwanzig Jahre lang diente den Unionsparteien die "türkische Gefahr" als populistischer Identitätskitt für ihre Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik: In den Achtzigerjahren zum Beispiel in Form rassistischer Warnungen vor fruchtbaren türkischen Frauen, die die demographische Balance der Republik durcheinanderzuwirbeln drohen. In den Neunzigern dann in Gestalt eines unberechenbaren politischen Islam, der die christliche Wertegemeinschaft auf nationaler und europäischer Ebene bedrohe.

Kein Wunder also, dass der CSU-Landesgruppenchef Michael Glos von einer "krassen Fehlentscheidung" spricht. Für Glos widerspricht der Beschluss von Helsinki der Meinung der Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Vor einer Aufnahme der Türkei, fordert Glos, müsse eine Grundsatzdebatte über die geografische Grenze Europas geführt werden: "Dabei gilt es, neben politischen und wirtschaftlichen Kriterien, vor allem die kulturelle und historische Dimension zu betrachten."

Friedbert Pflüger (CDU), Vorsitzender des Europaausschusses im Bundestag, äußerte sich ebenfalls skeptisch. Einerseits könnten in der Türkei unrealistische Illusionen entstehen. Andererseits könnten in der europäischen Bevölkerung Verunsicherungen aufreten, meint er, ohne dies näher auszuführen.

Die Vertreter der türkischen Gemeinschaft in Deutschland dagegen begrüßen den Beschluss über den Beitrittskandidaten-Status der Türkei mit Genugtuung. "Es war eine notwendige Korrektur der Politik der alten Bundesregierung", meint Mehmet Daimagüler, Vorsitzender der FDP-nahen liberalen türkisch-deutschen Vereinigung. Gleichzeitig widerspricht Daimagüler der Äußerung des parlamentarischen Geschäftsführers der FDP-Bundestagsfraktion, Jürgen Koppelin, der die Außenpolitik der Bundesregierung als "verlogen" bezeichnete. "Verlogen war die Türkeipolitik der alten Regierung. Wenn führende Unionspolitiker meinen, die Türkei gehöre wegen des Islams nicht zu Europa, hat das enorme Auswirkungen auf die Menschen hier, die sich zurückgestoßen fühlen", so Daimagüler weiter.

Safter Cinar, stellvertretender Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), glaubt vor allem an die psychologische Wirkung des Beschlusses für die 2,5 Millionen Deutschtürken. "Das Gefühl, man will uns eigentlich nicht in Europa, könnte nun weniger werden." Und sein Vorstandskollege, Hakki Keskin, meint: "Als Deutschlandtürken erhoffen wir uns nun mehr Akzeptanz im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung." Die TGD setzt darauf, dass die Entscheidung nicht nur das Zugehörigkeitsgefühl der 3,5 Millionen Einwanderer aus der Türkei, die in den Staaten der EU leben, fördert, sondern auch den Prozess der Identifikation mit dem Wertesystem Westeuropas beschleunigt.

Auch Hasan Özdogan, Vorsitzender des von Milli Görüs dominierten Islamrats, erhofft sich viel für die Zukunft. Zum Beispiel, dass sich nun die rechtliche Position der 12,5 Millionen Muslime in der EU, aber auch die der Muslime in der Türkei verbessert. "Gelingt es, den Islam in eine künftig demokratische türkische Gesellschaft zu integrieren, wäre das ein wichtiges Signal für eine Demokratisierung der gesamten islamischen Welt." Die Türkei, so Özdogan könnte in einer künftigen Annäherung zwischen Europa und der islamischen Welt eine wichtige Brückenkopffunktion einnehmen.

Voller Euphorie ist die Geschäftsführerin der Deutsch-Türkischen-Stiftung (DTS), Mehpare Bozyigit-Kirchmann. "In der Türkei wird es nun zu einem intellektuellen Aufbruch kommen. Künstler, Sozialwissenschaftler, kurz die ganze Elite, die seit dem Militärputsch 1980 geschwiegen hat, wird sich nun zu Wort melden." Das Türkeibild in Deutschland werde sich grundlegend ändern, und es könnten endlich "heiße Themen" angepackt werden. Auch Bozyigit-Kirchmann denkt dabei an den Islam. "Nun gilt es zu zeigen: Islam und Demokratie, das geht zusammen." Die DTS plant für kommendes Jahr ein Symposium zum Thema, zu dem Reformisten aus der gesamten islamischen Welt eingeladen werden sollen. Bozyigit-Kirchmann ist davon überzeugt, dass die Annäherung der Türkei schneller vonstatten gehen wird als erwartet: "Denn die Türkei hat im Gegensatz zu den anderen EU-Kandidaten die einmalige historische Chance, auf das Know-how der Deutschtürken zurückzugreifen."

"Erfeulich", bezeichnet der innepolitische Sprecher der Grünen, Cem Özdemir, den Beschluss von Helsinki. Er markiert für ihn das Ende der bundesdeutschen Abschottung gegenüber Türken und der Türkei. "Es ist kein Zufall, dass die gleichen Kreise, die gegen ein liberales Staatsbürgerschaftsrecht Sturm liefen, nun auch die Türkei-Entscheidung kritisieren."

Eberhard Seidel, Berlin