Süddeutsche Zeitung, 13.12.1999

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Größe XXL für Europa?

VON ANDREAS OLDAG, HELSINKI

Auf dem Gipfeltreffen in Helsinki hat die Europäische Union Mut bewiesen. Die Gemeinschaft will mit sechs weiteren Beitrittskandidaten Verhandlungen aufnehmen. Die Erweiterung der Union auf 25 oder sogar 27 Mitglieder ist allerdings für den inneren Zusammenhalt nicht ohne Risiko. Die EU hat sich in Helsinki einen Anzug der Größe XXL verpasst. Nun muss sie sehen, wie sie in Jacke und Hose hineinwächst.

Nach dem Willen der Staats- und Regierungschefs soll die EU in drei Jahren für die Erweiterung bereit sein. Nimmt Brüssel diese Forderung ernst, steht eine gewaltige Aufgabe bevor. Denn bereits heute sind die europäischen Institutionen - Ministerrat, Kommission und Parlament - kaum in der Lage, die wachsenden Anforderungen einer 15-Staaten-Gemeinschaft zu bewältigen. Der Brüsseler Apparat wird immer noch mit Methoden geführt, die aus den Tagen der verflossenen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) stammen. Es fehlt an modernem Management, vor allem aber an Transparenz und demokratischer Kontrolle. Ob es EU-Kommissionspräsident Romano Prodi gelingt, die Bürokratie innerhalb kurzer Frist umzukrempeln, ist fraglich. Schon jetzt sind die Widerstände gegen eine schlanke Verwaltung groß. Jeder Mitgliedsstaat verteidigt seine nationalen Erbhöfe. Dabei geht es vor allem auch um die Verteilung der Finanzmittel aus dem jährlich 170 Milliarden Mark umfassenden EU-Budget.

Die europäischen Integration-Bestrebungen waren stets geprägt von einer Mischung aus Vision und Realismus. Die Mitgliedsstaaten haben meistens unter dem Druck der Ereignisse Souveränitätsrechte an Brüssel abgegeben. Zuweilen haben - etwa bei der Euro-Einführung - auch rigide Zeitpläne geholfen, die EU-Staaten auf dem steinigen Weg des Einigungsprozesses voran zu bringen. Doch diese Strategie dürfte künftig nicht mehr funktionieren. Die EU steht am Beginn des neuen Jahrtausends vor der Aufgabe, eine umfassende Reform einzuleiten. Diese muss sich sowohl mit den Entscheidungsstrukturen als auch mit den Fragen künftiger politischer und geographischer Grenzen beschäftigen.

Schon heute ist die EU keine homogene Gemeinschaft von Staaten. Sie wird sich wegen der zunehmenden Größe auch nicht mehr in ein Korsett starrer Regeln pressen lassen. Der Kern wird geprägt durch die Euro-Zone, deren Mitglieder nicht nur die Kriterien des Schuldenabbaues und der Preisstabilität erfüllen müssen, sondern letztlich auch die Hoheit über ihre nationale Wirtschafts- und Finanzpolitik abzugeben haben. Um die elf Euro-Teilnehmer herum gruppieren sich die Staaten, die auf Grund nationaler Vorbehalte vorerst eine gemeinsame Währung ablehnen, beispielsweise Dänemark und Großbritannien.

Die künftige Struktur der EU muss sich an einer größeren Flexibilität orientieren. Nicht jedes Mitglied kann sofort die höchste Integrationsstufe erklimmen. Dies wird in der Praxis auf einen politischen Spagat hinauslaufen. Denn Rechte und Pflichten müssen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen. Auch im eigenen Interesse wird die EU neuen Mitgliedern aus Ost- und Mitteleuropa Übergangsfristen einräumen müssen. Brüssel ist weder in der Lage, die museumsreifen Landwirtschaften zu sanieren noch den uneingeschränkten Zugang von Billig-Arbeitskräften zuzulassen.

Dramatisch wird dieses Problem hinsichtlich eines möglichen EU-Beitritts der Türkei. Ankara könnte nach heutigen Brüsseler Maßstäben einen Großteil der Milliarden des Fonds zum Aufbau wirtschaftsschwacher Regionen beanspruchen. Die Folge: Der EU-Haushalt würde vor dem Kollaps stehen. Die Union muss sich deshalb fragen lassen, ob es überhaupt sinnvoll ist, wirtschaftlich rückständigen Ländern, die noch Jahrzehnte zum Aufbau ihrer Ökonomien brauchen, Beitrittsangebote zu machen.

Gewiss haben es die notorischen Europa-Skeptiker am einfachsten, die sich mit einer Mini-Reform zufrieden geben und aus der EU nur eine Art bessere Freihandelszone machen wollen. Sie benutzen die Ost-Erweiterung, um die politische Union zu verhindern. Kein Zufall, dass die britischen Konservativen an dieser Strategie Gefallen finden. Der europäische Zug fährt allerdings in eine andere Richtung. Denn auch das stärkere Engagement der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik, das jetzt durch den Aufbau einer von der Nato unabhängigen Eingreiftruppe untermauert werden soll, lässt sich nicht mehr zurücknehmen.

Die EU muss ihre Entscheidungsstrukturen so reformieren, dass sie effizient arbeiten kann, aber politische Einigungsziele nicht aufgibt. Einstimmigkeits-Beschlüsse im Rat blockieren die EU. Das hat gerade die Debatte über die europäische Zinssteuer gezeigt. Mehrheits-Entscheidungen müssen deshalb in allen Bereichen die Regel werden. Außerdem sollte die Zahl der Kommissare begrenzt werden. Zwar ist es unrealistisch, dass die Mitglieder freiwillig auf jeweils einen nationalen Repräsentanten an der EU-Spitze verzichten. Doch die großen Staaten, die bisher mit zwei Kommissaren vertreten sind, müssen sich mit weniger Posten zufrieden geben, wenn die vergrößerte Union handlungsfähig bleiben soll. Allerdings muss es für die Großen einen Ausgleich im EU-Ministerrat geben, in dem die kleinen Länder auf Grund der komplizierten Stimmengewichtung mehr Einfluss gewinnen.