Süddeutsche Zeitung, 13.12.1999

Zwei Krisenkuriere retten den Türkei-Deal

Fast hätte Ankara das Beitrittsangebot der EU abgelehnt - Verheugen und Solana verhinderten eine Blamage für die Union

Von Stefan Ulrich

Helsinki - Würde er kommen? Diese Frage prägte das Millenniumstreffen der Europäischen Union in Helsinki. Andere, für die EU ebenfalls nicht unbedeutende Themen wie eine gemeinsame Verteidigungspolitik und eine grundlegende Reform der Institutionen gerieten darüber völlig in den Hintergrund. So wurde der Eindruck erweckt, über Erfolg oder Misserfolg der Gipfelkonferenz entscheide letztlich ein Mittagessen - genauer: ein bestimmter Gast. Würde der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit am Samstag am Lunch der EU-Staats- und Regierungschefs mit den Vertretern der Beitrittskandidaten teilnehmen, so wäre alles gut. Käme er aber nicht, so wäre Helsinki ein Fehlschlag.

Nun, Ecevit hat mitgetafelt. Und das Gruppenfoto der neuen europäischen Großfamilie ließ vergessen, dass die Union am Abend zuvor an einer Peinlichkeit vorbeigeschrammt war. Für Stunden sah es so aus, als könnte Ankara das Kandidaten-Angebot als unzureichend zurückweisen und die EU vor aller Welt düpieren. Im Kern ging es um die alte Rivalität zwischen der Türkei und Griechenland. Athen blockierte deswegen bislang eine Heranführung Ankaras an die EU, was etlichen anderen Mitgliedstaaten wie Deutschland gelegen kam. Ist ihnen doch die Vorstellung unheimlich, das bevölkerungsreiche muslimische Land nach Kerneuropa zu holen.

Doch in Helsinki hatte sich - auch unter dem Druck der USA - die Überzeugung durchgesetzt, man müsse Ankara endlich den Kandidatenstatus bieten. Nur so werde sich das Land reformieren, nur so könne der Westen seinen Einfluss an der Nahtstelle zwischen Europa, Asien und dem Nahen Osten sichern. Griechenland sollte durch Zugeständnisse gewonnen werden: zum einen durch die Möglichkeit, den griechischen Teil Cyperns auch vor einer Wiedervereinigung der Insel in die EU aufzunehmen; zum andern durch die Auflage, notfalls den Internationalen Gerichtshof über Grenzstreitigkeiten zwischen Athen und Ankara entscheiden zu lassen. Beides hatte die Türkei in der Vergangenheit abgelehnt. Würde sie jetzt zustimmen, um endlich Kandidat werden zu dürfen?

Die türkische Regierung signalisierte den EU-Führern am Freitagnachmittag verschärftes Missfallen. Der Deal drohte zu platzen. Da kam dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder die Idee, die viel beschworene neue europäische Außenpolitik zu testen. Hierfür standen drei Männer bereit: Außenkommissar Chris Patten, Erweiterungskommissar Günter Verheugen und der außenpolitische Repräsentant der EU, Javier Solana, vulgo "Herr Gasp". Der Spanier Solana und der Deutsche Verheugen durften sich schließlich startbereit machen. Dem Briten Patten fiel unterdessen der weniger ruhmreiche Part zu, der Presse in Helsinki den Tschetschenien-Beschluss der Gipfelkonferenz als dramatische Warnung an Moskau zu verkaufen.

Verheugen und Solana hatten einen klaren Auftrag: Sie sollten nicht mit den Türken verhandeln, sondern sie überzeugen. Paris stellte den Emissären ein Flugzeug zur Verfügung. Das Essen an Bord soll ausgezeichnet gewesen sein. Schade nur, dass die Maschine vor dem Rückflug wegen eines Defekts ausfiel. Die Krisenkuriere mussten einige Nachtstunden auf dem Flughafen Ankaras zubringen. Verheugen zog sich einen Schnupfen zu. Doch da war ja schon alles gelaufen.

Bereits bei Ankunft der beiden war klar geworden, dass die türkische Regierung den Erfolg wollte. Sie hatte ein großes Medienaufgebot zum Flughafen gelotst. Die Gesandten aus Helsinki wurden zu Außenminister Ismail Cem gebracht und konnten ihn bald überzeugen. Nach Mitternacht empfing dann der betagte Premier Ecevit selbst die EU-Politiker. Er machte einen aufgeräumten Eindruck und fing gleich an, über die künftige Zusammenarbeit zu sprechen. Verheugen, der seine Zigaretten vergessen hatte, meinte: "Beginnen wir die Partnerschaft doch damit, dass wir unsere Zigaretten teilen." So geschah es. Nun sage noch einer, die Union könne von einem Beitritt der Türkei nicht profitieren.