Neue Züricher Zeitung, 13.12.1999

Die Türkei auf dem Weg nach Europa

Innere Reform der EU zur Erhöhung der Aufnahmekapazität

Nach dem Ja aus Ankara zum Angebot der Europäischen Union, die Türkei in den Kreis der Beitrittskandidaten aufzunehmen, ist das Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU in Helsinki in Minne abgeschlossen worden. Die Aufnahme zahlreicher neuer Mitglieder fordert nicht nur die Kandidaten heraus, sondern verlangt von der Europäischen Union auch tiefgreifende Reformen.

lts. Helsinki, 11. Dezember

Mit einem gemeinsamen Mittagessen der Vertreter der 15 Mitgliedsländer und der 13 Beitrittskandidaten ist am Samstag in Helsinki das Gipfeltreffen der Europäischen Union (EU) zu Ende gegangen. Dass auch die Türkei in die Runde aufgenommen werden konnte, wurde vom britischen Premierminister Blair als ein «sehr bedeutsames Ereignis» begrüsst. Der französische Staatspräsident Chirac trat allen Zweiflern an der Klugheit dieses Entscheids mit der Feststellung entgegen, wegen ihrer Geschichte und ihrer Ambitionen sei die Türkei ein europäischer Staat. Der türkische Regierungschef Ecevit sprach von einem «Geburtsrecht» der Türkei auf den Kandidatenstatus; die Türkei habe seit 600 Jahren auch eine europäische Berufung, sei seit über 30 Jahren in einem Assoziationsvertrag mit der EU verbunden und trage seit 50 Jahren als verlässlicher Nato-Partner zur Sicherheit Europas bei. Er unterliess es auch nicht, auf die grosse geostrategische Bedeutung seines Landes hinzuweisen. Die Mitgliedschaft der Türkei in der EU liege nicht nur im Interesse seines Landes, sondern auch in jenem der Gemeinschaft.

Zahlreiche Stolpersteine

Obschon sich in den letzten Monaten unter dem Eindruck der Erdbebenfolgen in ihren beiden Ländern und der gegenseitigen spontanen Hilfeleistungen das Verhältnis zwischen Griechen und Türken etwas entkrampft hat, gibt es auf dem Weg zu einer Aussöhnung zwischen den beiden Nationen noch zahlreiche Stolpersteine. Ob Ecevit tatsächlich am Familientisch der EU Platz nehmen würde, gehörte deshalb zu den wenigen Unwägbarkeiten des Gipfels in Helsinki. Die Staats- und Regierungschefs der EU hatten Bedenken, die nach früheren Brüskierungen misstrauisch gewordenen Türken könnten die mit dem Kandidatenstatus verknüpften Bedingungen zurückweisen. In einem Brief an Ecevit hatte der finnische Ministerpräsident Lipponen zwar präzisiert, die EU verlange von der Türkei wirklich nichts, was über die von Ankara akzeptierten und für alle Beitrittskandidaten gültigen «Kriterien von Kopenhagen» zur Rechtsstaatlichkeit sowie zum Schutz der Menschenrechte und Minderheiten hinausgehe. Die Hinweise auf Zypern und auf ungelöste Grenzstreitigkeiten sowie die Empfehlung, diese allenfalls dem Internationalen Gerichtshof vorzulegen, seien Teil eines politischen Dialogs und enthielten keine Vorbedingungen für die Aufnahme in den Kreis der Beitrittskandidaten. Die EU verlange auch nicht, dass die offenen Streitpunkte zwingend bis 2004 bilateral oder mit Hilfe des Haager Gerichtshofes geregelt sein müssten. Der Europäische Rat werde jedoch zu jenem Zeitpunkt die Situation im Hinblick auf mögliche Auswirkungen auf den Beitrittsprozess erneut überprüfen.

Zugang zu Hilfeleistungen

Die Staats- und Regierungschefs waren sich der Gefahr bewusst, dass die mit Rücksicht auf griechische und türkische Empfindlichkeiten bewusst vage gehaltenen Formulierungen in Ankara missverstanden werden könnten. Sie entschieden kurzfristig, den aussenpolitischen Repräsentanten der EU, Solana, als verlässlichen Interpreten der EU-Position in die türkische Hauptstadt zu schicken. Gegen Mitternacht konnten er und der für die Erweiterung zuständige Kommissar, Verheugen, nach Helsinki berichten, die türkische Regierung habe die Offerte der EU akzeptiert. Im Konferenzzentrum nicht bestätigt, aber auch nicht dementiert wurde die Meldung, auf Wunsch der Europäer habe auch Präsident Clinton in einem Telefongespräch Ecevit empfohlen, jetzt keine Schwierigkeiten mehr zu machen. Nach seiner Rückkehr versicherte Solana, wie alle andern Kandidaten habe jetzt auch die Türkei Zugang zu finanziellen und technischen Hilfeleistungen, womit die Gemeinschaft den Annäherungsprozess künftiger Mitglieder begleitet und stützt. Wie lange es dauert, bis die Türkei die nötigen politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllt, um vom Wartesaal einer Kandidatin in den Verhandlungsraum zu wechseln, mochte niemand voraussagen. Auch nicht Ecevit. Aber der türkische Regierungschef prophezeite, dank ihrer wirtschaftlichen Dynamik und politischen Entschlossenheit werde die Türkei viel schneller als von vielen vermutet für Verhandlungen und den EU-Beitritt bereit sein.

Praktische Probleme

Die in Helsinki beschlossene grosse Erweiterung bedeutet nicht nur für die Kandidaten, sondern auch für die Gemeinschaft eine immense Herausforderung. Die Frage nach den politischen, kulturellen und geographischen Grenzen der Union stellt sich immer dringender. Der Kommissionspräsident Prodi räumte die Notwendigkeit ein, mit Hilfe einer breit angelegten Diskussion über Werte und Wurzeln Europas die künftigen Grenzen der Union abzustecken. Für Ecevit ist es unvermeidbar, dass sich die Grenzen Europas nach Osten in den Kaukasus und schliesslich bis nach Zentralasien verschieben werden. Neben diesen zurzeit eher theoretischen Herausforderungen stellen sich der EU im Zusammenhang mit der Erweiterung aber auch sehr praktische Probleme.

Um wie versprochen bis Ende 2002 zur Aufnahme neuer Mitglieder bereit zu sein, muss die Gemeinschaft dafür sorgen, dass sie auch dann noch effizient arbeiten und entscheiden kann, wenn nicht mehr bloss 15, sondern 20, 25 oder 28 Mitglieder um den Tisch sitzen. Der Luxemburger Regierungschef Juncker mahnte, falls die EU nicht rechtzeitig die erforderlichen neuen Instrumente bereitstelle und durch den Einbau von mehr Flexibilität Integrationsschübe ermögliche, riskiere sie, eine «gehobene Freihandelszone» zu werden. Auch nach Überzeugung von Prodi müssen die Strukturen der EU tiefgreifend reformiert werden. Mit dieser Aufgabe beauftragte der Rat eine neue Regierungskonferenz, die Anfang Februar 2000 einberufen wird. Das Mandat sieht vor, die Grösse und Zusammensetzung der Kommission, die Gewichtung der Stimmen im Rat, eine mögliche Ausweitung der Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit und allenfalls andere Vertragsänderungen zu prüfen. Damit optierte der Rat für eine «kleine» Reform, liess aber, wie Prodi dies verlangt hatte, die Türe offen für weitergehende Reformen. Die meisten Staaten warnten davor, das Fuder thematisch zu überladen. Die Franzosen befürchten, mit einer zu stark befrachteten Agenda könnte die Regierungskonferenz unter französischer Präsidentschaft ihre Arbeit nicht wie verlangt bis Ende 2000 erfolgreich abschliessen. Diese Frist müsse aber eingehalten werden, damit bis Ende 2002 genügend Vorlaufzeit in den 15 Mitgliedstaaten für die Ratifizierung der modifizierten Verträge bleibe.