Neue Züricher Zeitung, 13.12.1999

Freude in der Türkei über den Kandidatenstatus

Viel Unterstützung für das Ja der Regierung

Türkische Kommentatoren und Zeitungen jeglicher politischen Ausrichtung haben das Ja der Regierung in Ankara zum Angebot der EU, die Türkei in den Kreis der Beitrittskandidaten aufzunehmen, begrüsst. Es wird aber darauf hingewiesen, dass dem Land bis zur Mitgliedschaft noch viel Arbeit bevorstehe.

paz. Istanbul, 12. Dezember

Trotz dem anfänglichen Zögern der Regierung in Ankara, den mit Auflagen verbundenen Status der Türkei als einer Kandidatin für den Beitritt zur EU anzunehmen, haben die türkischen Medien den positiven Entscheid fast einhellig begrüsst. Die Einladung aus Helsinki wurde am Samstag morgen auf den Frontseiten regelrecht gefeiert. Die der Linie von Premierminister Ecevit nahestehende Zeitung «Radikal» titelte «Wir sind in Europa». Die nationalistische «Türkiye» gab mit fetten Buchstaben ihrer Erleichterung Ausdruck: «Endlich sind wir Kandidat». Die auflagenstärkste Zeitung, «Hürriyet», legte Wert darauf, dass die Türkei «der erste muslimische Kandidat» sei. Sie spielte damit auf den in der Türkei weitverbreiteten Verdacht an, dass das Land auf Grund seiner Religion nicht in der EU willkommen sei. Für den Chefkommentator der «Hürriyet» hat für die Türkei das neue Jahrtausend bereits am Samstag begonnen. Die «Sabah», die zweitgrösste Zeitung, verglich die Einladung aus Helsinki gar mit dem Vertrag von Lausanne, in dem 1923 die türkische Republik international anerkannt worden war.

Zitterpartie in Ankara

Obwohl die Zeichen aus den europäischen Hauptstädten in der vergangenen Woche auf einen Entscheid des Europäischen Rates zugunsten der Türkei hingedeutet hatten, kam es am Schluss zu einer eigentlichen Zitterpartie. Auch wenn Ankara lange Jahre auf diesen Moment gewartet hatte, schien man eine Ablehnung wegen der Passagen über Zypern und über die umstrittene Grenzziehung mit Griechenland in der Ägäis ernsthaft in Betracht gezogen zu haben. Der klärende Brief der EU-Präsidentschaft zur Regelung der Ägäis-Frage habe dann den positiven Beschluss der Regierung herbeigeführt, meint Cem Duna, ein ehemaliger türkischer Botschafter in Brüssel. Der Besuch Solanas und Verheugens habe dann noch unterstrichen, wie wichtig die Türkei für die Europäer sei. Die Furcht, die eigene Regierung könnte das Angebot ablehnen, zeigte sich in den Samstagsausgaben der Zeitungen, die teilweise vor der definitiven Antwort Ankaras Redaktionsschluss hatten, sehr deutlich. Für die gemässigt islamistische «Yeni Safak» war die Nacht von Freitag auf Samstag «die längste Nacht».

Die Sonntagsblätter benützten als Aufmacher fast ausschliesslich das «Familienbild», das die Staats- und Regierungschefs der EU und die Beitrittskandidaten zeigt. Darauf ist nun erstmals auch ein türkischer Vertreter zu sehen. Dies sei das Bild, auf das man 40 Jahre gewartet habe, schrieb das Massenblatt «Aksam». Die meisten Zeitungen legten den Schwerpunkt auf die zahlreichen Veränderungen, die in der Türkei stattfinden müssten, bis das Land EU-Mitglied werden könne. Es wird allerdings deutlich, dass verschiedene Kreise der Gesellschaft sich von den Kopenhagener Kriterien ganz unterschiedliche Ergebnisse erhoffen. Für die prokurdische «Özgür Bakis», deren Erscheinen im Südosten der Türkei verboten ist, steht die friedliche Lösung des Kurdenkonflikts an erster Stelle. Die Kopenhagener Kriterien müssen nach Ansicht der Zeitung dazu führen, dass auch Fernsehstationen und Schulen in kurdischer Sprache zugelassen werden. Die «Türkiye» sieht genau darin eine Gefahr, dass die Europäer im Namen der Menschenrechte «Terroristen» in Schutz nehmen. Die islamistische Presse fordert eine Lockerung der Regelung, die Frauen mit einem Kopftuch von den Universitäten ausschliesst.

Mentalitätswandel notwendig

Die Diskussionen drehen sich auch bereits darum, wie lange es dauern wird, bis Ankara Mitglied der EU ist. Zusammen mit Premierminister Ecevit argumentieren prominente Kommentatoren, dass es viel schneller gehen könnte, als dies in Europa allgemein angenommen werde. Als Hauptgrund wird angeführt, dass die Türkei im Gegensatz zu den ex-kommunistischen Anwärtern durch das Zollabkommen von 1995 bereits stark in den europäischen Wirtschaftsraum integriert sei. Kemal Kirisci, der an der Bosporus- Universität lehrt, weist allerdings auf ein gewichtiges Handicap hin. Die Osteuropäer hätten mit ihrer kommunistischen Vergangenheit gebrochen und ihre Eliten ausgewechselt. In der Türkei hingegen habe ein solcher Prozess nicht stattgefunden. Das Land sei daher weit weniger reformorientiert. Nach Ansicht Kiriscis führt erst ein Mentalitätswechsel zur Durchführung der mit den Kopenhagener Kriterien verbundenen Reformen.

Die Abschaffung der Todesstrafe als Test

Ein erster Test, wie es mit der Verbreitung europäischer Werte in den türkischen Köpfen steht, dürfte schon bald bevorstehen. Ecevit hat bei seinem Versprechen in Helsinki, sich für die rasche Abschaffung der Todesstrafe einzusetzen, bereits angedeutet, dass nicht alle Regierungsparteien dieses Ziel teilten. Der Regierungschef sprach damit die Position der rechtsradikalen Nationalen Bewegung an, der zweitstärksten Kraft in der Regierung und im Parlament. Diese hatte auch in den Tagen vor dem Helsinki-Gipfel klargemacht, dass sie sich für die Hinrichtung des Kurdenführers Öcalan einsetzt. Ein Abweichen von dieser Haltung ist nicht erkennbar.