Tagesspiegel, 13.12.1999

Der "Ritterschlag von Helsinki" - wie die Türkei mit ihrem Kandidatenstatus Umgeht

Dissidenten hoffen auf die Abschaffung der Todesstrafe - bricht eine neue Reform-Ära an?

Susanne Güsten

Begeistert kletterte der türkische Textilfabrikant Ahmet Tuncay am Wochenende auf seine Fabrik im südwestanatolischen Denizli und hisste dort die blau-gelbe Fahne der Europäischen Union. Wie Tuncay jubelte die ganze Türkei über den Ritterschlag von Helsinki, mit dem das Land offiziell als Kandidat für den Beitritt zur EU anerkannt wurde. "Das ist jetzt unsere Familie", hieß es in den Zeitungen zu dem Familienfoto vom Gipfel, auf dem die türkische Delegation stolz aus den Reihen der europäischen Staats- und Regierungschefs strahlt. Doch nicht nur die offizielle Türkei feiert die Einigung von Helsinki: Auch ihre Dissidenten und Kritiker sehen eine neue Ära anbrechen. Allen voran hatte PKK-Chef Abdullah Öcalan dem jahrzehntelang von ihm bekämpften Staat die Daumen gedrückt, dass es in Helsinki endlich klappen würde. Die Entscheidung, von der der kurdische Rebellenchef in seiner Zelle auf der Gefängnisinsel Imrali aus dem Radio erfuhr, dürfte ihm nun auch wirklich das Leben gerettet haben. Denn als Zeichen der Ernsthaftigkeit und des Reformwillens der türkischen Regierung versprach Ministerpräsident Bülent Ecevit noch in Helsinki öffentlich, sich für die Abschaffung der Todesstrafe in seinem Land einzusetzen. Zwar muss er dafür noch seine Koalitionspartner gewinnen, doch bekräftigte nach dem EU-Gipfel auch der türkische Staatspräsident Süleyman Demirel, dass das gegen Öcalan verhängte Todesurteil aus Respekt vor den europäischen Spielregeln bis auf weiteres nicht vollstreckt werden solle.

Öcalan ist nicht der einzige "Staatsfeind", der sich von Europa viel verspricht. Da ist die Ex-Parlamentsabgeordnete Leyla Zana, die wegen ihrer Mitgliedschaft in einer Kurdenpartei einsitzt. Da ist der frühere Istanbuler Bürgermeister Recep Tayyip Erdogan, der wegen öffentlichen Rezitierens eines als islamistisch ausgelegten Gedichts mit Politikverbot auf Lebenszeit belegt ist. Und da ist die Abgeordnete Merve Kavakci, der nach einem Auftritt mit Kopftuch im Parlament gleich die Staatsbürgerschaft entzogen wurde - sie alle haben von europäischen Reformen in der Türkei viel zu gewinnen.

Selbst der Führungsrat der PKK faxte aus dem Untergrund eine Erklärung, in der das Ergebnis von Helsinki als "historisch" begrüßt wurde, und forderte als Konsequenz aus der Anerkennung rasche Reformen. Als ersten Schritt zur Vorbereitung auf die Vollmitgliedschaft in der EU sollte die Türkei ihr Kurdenproblem lösen, so das Rebellen-Hauptquartier. Und die pro-kurdische Presse in der Türkei freute sich am Sonntag, dass die Türkei in Helsinki einen "Fahrplan in die Demokratie" erhalten habe.

Auch das islamistische Lager in der Türkei beglückwünscht sich dazu, dass Ankara künftig stärker als bisher bei der Einhaltung der Menschenrechte auf die Finger gesehen wird. Jetzt werde bald Schluss sein mit der Macht des Militärs und mit der Unterdrückung, freute sich nach der Einigung von Helsinki deshalb etwa das islamistische Blatt "Akit": Auch die Islamisten am Bosporus, die von den mächtigen Militärs als Staatsfeinde bekämpft werden, setzen gegen die Einschränkung ihrer Meinungsfreiheit in der Türkei auf europäische Freiheitsnormen. So freuen sich der türkische Staat und seine Gegner in seltener Eintracht über das Ergebnis von Helsinki - die einen über den Statusgewinn in Europa, die anderen auf die erhofften Reformen.