Rheinische Post online, 12.12.1999

Ecevit in Helsinki angekommen

Türkischer Ministerpräsident will Todesstrafe abschaffen

Helsinki (dpa). Der türkische Ministerpräsident Ecevit ist heute in Helsinki angekommen. Dort wurde er beim EU-Gipfel erwartet. Ankara hatte am gestrigen Abend den Beschluss der EU akzeptiert, mit dem die Türkei den Status eines Beitrittskandidaten erhält. Ecevit sagte am Samstag auf einer Pressekonferenz beim EU-Gipfel, er wolle die Todesstrafe schnellstens abschaffen. Er habe sehr wohl zur Kenntnis genommen, dass es sie in den Staaten der Europäischen Union nicht mehr gebe. Er hoffe, dass die anderen Parteien in der Türkei das auch wüssten und sich dazu durchringen könnten, die Todesstrafe abzuschaffen.

Ecevit war gefragt worden, welche Auswirkungen die Gewährung des Beitrittskandidatenstatus durch die Staats- und Regierungschefs auf das Schicksal des zum Tode verurteilten Vorsitzenden der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, habe. Dieser Frage wich er aus, indem er sagte, es gehe hier nicht allein um den Fall Öcalan, sondern um das Prinzip.

Zu einem gemeinsamen Mittagessen hat die EU-Gipfelkonferenz am Samstag ihre Kollegen aus den 13 Ländern empfangen, die nun offiziell Kandidaten für einen Beitritt sind. Die Staaten, mit denen die EU bereits Verhandlungen führt, sind Polen, Ungarn, Tschechien, Estland, Slowenien und Zypern. Der Gipfel hatte am Freitag beschlossen, ab Februar 2000 auch mit Rumänien, Bulgarien, Litauen, Lettland, der Slowakei und Malta zu verhandeln.

Die EU hat die Zahl ihrer Beitrittskandidaten von sechs auf zwölf verdoppelt. Gleichzeitig forderte die EU Russland eindringlich auf, den Tschetschenienkonflikt politisch zu lösen und das Ultimatum zum Verlassen Grosnys nicht durchzusetzen. Von Sanktionen sahen die EU-Chefs zunächst aber ab.

Mit der Teilnahme von Ministerpräsident Bülent Ecevit am Abschluss-Essen des EU-Gipfels in Helsinki ist die Anerkennung der Türkei als EU-Beitrittskandidatin besiegelt. Der außenpolitische Repräsentant der EU, Javier Solana, verkündete nach seiner Stippvisite in Ankara am Samstag: "Die Türkei ist diesmal eine Kandidatin für den EU-Beitritt und unterliegt denselben Kriterien wie die anderen Kandidaten." Zwei Jahre zuvor hatte die EU die Türkei von der kommenden Erweiterungsrunde ausgeschlossen, worauf Ankara die Beziehungen zu Brüssel einfror.

Solana lobte sowohl das Verhalten Ecevits als auch des griechischen Ministerpräsidenten Konstantinos Simitis und dankte der finnischen EU-Ratspräsidentschaft für ihr Engagement bei den Vermittlungen. Simitis hatte bis zuletzt Vorbehalte geltend gemacht, die in der Entscheidung der EU-Staats- und Regierungschefs zum Kandidatenstatus der Türkei ihre Berücksichtigung fanden.

So werden beide Seiten aufgefordert, ihre Territorialstreitigkeiten bis 2004 friedlich beizulegen oder andernfalls den Internationalen Gerichtshof in Den Haag anzurufen. Dessen Zuständigkeit hatte die Türkei stets abgelehnt.

Hinsichtlich des Beitritts der geteilten Insel Zypern zur EU wird der Türkei jedes Recht auf ein Veto abgesprochen. Ob die EU im Falle eines Scheiterns der Wiedervereinigungsbemühungen den griechischen Teil alleine aufnimmt, bleibt dem Europäischen Rat zur Entscheidung vorbehalten.

Von den allgemein gültigen Kopenhagener Beitrittskriterien hob die EU besonders die Menschenrechtslage hervor. Zum Fall des zum Tode verurteilten Kurdenführers Abdullah Öcalan sagte Solana, das Recht auf Leben werde von den EU-Staaten sehr ernst genommen. "Es wäre schwierig, ein Mitglied in der europäischen Familie zu haben, das dem Recht auf Leben nicht denselben Wert beimisst."

Solana und der EU-Kommissar für die Erweiterung, Günter Verheugen, waren am Freitag abend nach Ankara geflogen, um den Beschluss zu überbringen und zu erläutern. Ecevit billigte das Angebot und kündigte an: "Wir werden für die Vollmitgliedschaft früher als erwartet bereit sein." Ecevit stellte klar, "dass die Tatsache zweier Staaten auf Zypern in keiner Weise mehr zu ändern ist". Vorbedingungen bezüglich Zyperns und Griechenlands würden nicht akzeptiert. Ecevit nahm auch die Einladung zum Mittagessen der EU-Staats- und Regierungschefs mit den Ministerpräsidenten der anderen zwölf Beitrittsländer in Helsinki an.

Für die ersten Beitritte in die EU wurde weiterhin kein Datum genannt. Die für die Erweiterung auf bis 27 Mitglieder notwendige interne Reform der EU, wie etwa von Kommission und Ministerrat, soll bis Ende 2002 abgeschlossen sein. Am Verhandlungstisch sollen ab Frühjahr auch Rumänien, Bulgarien, Litauen, Lettland, die Slowakei und Malta sitzen. Die Union ist bereits seit März 1998 in konkreten Gesprächen mit Polen, Ungarn, Tschechien, Estland, Slowenien und Zypern. Diplomaten rechnen mit ersten Beitritten, etwa von Ungarn und Polen, frühestens ab 2003. Der Rest könnte bis auf Bulgarien und Rumänien ab 2005 folgen.

Zum Tschetschenien-Konflikt hieß es aus Delegationskreisen, das Durchsetzen des Ultimatums zum Verlassen Grosnys hätte ernsthafte Konsequenzen. Der Dialog zwischen der EU und Russland würde dann eine ganz andere Qualität erhalten. Der Krieg in Tschetschenien stand am Morgen auch im Mittelpunkt des traditionellen Gipfelfrühstücks von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac.

Die Präsidentin des Europaparlaments, Nicole Fontaine, sagte, alle neuen Verträge im Rahmen des so genannten Tacis-Programms der EU zu Gunsten Russlands müssten eingefroren werden. Seit 1991 sind 1,2 Milliarden Euro (2,4 Milliarden Mark) nach Russland geflossen, unter anderem für Umwelt-, Ausbildungs- oder Energieprogramme. Auf dem Spitzentreffen wurde eine Erklärung vorbereitet, in der das Vorgehen Russlands in Tschetschenien scharf verurteilt werden wird.

Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union wandten sich mit einer Erklärung zum Jahrtausendwechsel an die Bevölkerung in den 15 Mitgliedsstaaten. Darin wird unterstrichen, dass auch weiterhin an einer Union zum Wohle ihrer Menschen gearbeitet werden soll. "An der Schwelle eines neuen Jahrhunderts und des dritten Jahrtausends sollte sich die Union auf Aufgaben konzentrieren, die für die Sicherheit und das Wohlergehen ihrer Bevölkerung zentral sind", heißt es in der "Millennium-Erklärung".