Tagesspiegel, 11.12.1999

EU lässt Türkei als Kandidaten zu - Ankara lehnt Bedingungen ab

Konsens beim Gipfel in Helsinki über Eingreiftruppe und Erweiterung der Union. Großbritannien verweigert Kompromiss zur EU-Quellensteuer

Thomas Gack

Die Europäische Union wird vom nächsten Jahr an die Beitrittsverhandlungen mit sechs weiteren Staaten aufnehmen. Die Türkei wird offizieller Beitrittskandidat, ohne dass Verhandlungen aufgenommen werden. Das haben die 15 Staats- und Regierungschefs der EU am Freitag in Helsinki bei ihrem Gipfeltreffen beschlossen, das atmosphärisch unter dem Eindruck der drohenden Zuspitzung des Tschetschenien-Kriegs stand. In der Schwebe blieb am Freitag, ob die türkische Regierung auf die Forderungen eingehen wird, die an den Status des Beitrittskandidaten gebunden sind. Ankara habe die Erklärung der EU zwar "nicht abgelehnt, aber negativ reagiert", hieß es in Helsinki. Der Hohe Repräsentant für die EU-Außenpolitik Javier Solana und Günter Verheugen, der in Brüssel für die Erweiterung zuständig ist, wollten noch am späten Abend nach Ankara fliegen, um mit der türkischen Regierung direkte Vermittlungsgespräche zu führen.

Der Europäische Rat ist zwar grundsätzlich bereit, die Türkei in den Kreis der dann 13 Beitrittskandidaten aufzunehmen. Auf absehbare Zeit könne aber von konkreten Aufnahmeverhandlungen mit Ankara nicht die Rede sein, heißt es in Helsinki. Während Griechenland seinen Widerstand gegen den Kandidatenstatus der Türkei am Freitag aufgab, stößt offenbar vor allem die in Helsinki vorbereitete Erklärung der EU auf den Widerstand der Türken, in der die Türkei sowohl zum Einlenken im Zypern-Konflikt als auch im griechisch-türkischen Streit um die Ägäis veranlasst werden soll. Die EU fordert darin Ankara auf, den Konflikt mit Griechenland politisch zu überwinden. Sollte dies nicht gelingen, solle die Türkei einen Schiedsspruch des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag anerkennen, was die Türkei bisher strikt ablehnt. Als zweiten zentralen Punkt stellt die EU in ihrer Helsinki-Erklärung fest, dass eine politische Lösung des Zypern-Konflikts den Beitritt der Insel zur EU zwar erleichtern werde. Sei eine Vereinigung der Insel nicht möglich, behalte sich der Europäische Rat die Entscheidung vor, die griechischsprachige Republik Zypern alleine in die EU aufzunehmen.

Einigkeit herrschte am ersten Gipfeltag unterdessen weitgehend über die politischen und militärischen Strukturen für eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Europa soll, so die erklärte Absicht, bis Ende 2002 mit eigenen Streitkräften zur Krisenbewältigung und zu friedenserhaltenden Maßnahmen in der Lage sein. Am Widerstand der Briten ist dagegen schon zum Auftakt des Gipfeltreffens die geplante europaweite Besteuerung der Zinserträge gescheitert. Damit ist das seit Jahren verhandelte EU-Steuerpaket erneut in Frage gestellt, das unter anderem einen Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung enthält.

Während der künftige Status der Türkei im Kreis der Beitrittskandidaten am Freitag in Helsinki heftige Debatten und ein diplomatisches Tauziehen zwischen Ankara und Helsinki auslöste, war der Start der Beitrittsverhandlungen mit Lettland, Litauen, der Slowakei, Rumänien, Bulgarien und Malta im Kreis der Regierungschefs unumstritten. Die sechs Staaten sollen die Gelegenheit haben, zügig die Annäherung zu betreiben und eventuell auch die sechs Kandidatenländer auf dem Weg in die EU zu überholen, die schon mit Verhandlungen begonnen haben.