Süddeutsche Zeitung 11.12.1999

Meinungsseite

Ende der Doppeldeutigkeiten

Die Türkei ist EU-Kandidat, jetzt muss sie sich reformieren - oder gegen einen Beitritt entscheiden

Von Wolfgang Koydl

Na also, es geht doch! Am Ende sprangen sogar die Griechen über ihren Schatten und öffneten gemeinsam mit den 14 Partnern ein Stück weit das Tor, durch das die Türkei in die Europäische Union eintreten soll. Gewiss: Athen hat auch diesmal einen hohen Preis für sein Zugeständnis gefordert, und wird wohl zum Teil auch ausbezahlt worden sein. Dennoch bleibt festzuhalten: Auf dem Gipfel der EU von Helsinki haben die Europäer alte Fehler ausgebügelt und zugleich ein wenig Geschichte geschrieben.

Zugegeben, es ist nur ein kleines bisschen Historie, denn von einer echten Mitgliedschaft ist die Türkei weiterhin Jahre entfernt. Noch immer sitzt sie in der dritten Klasse: Ganz vorne reisen luxuriös die Polen, Tschechen oder Ungarn, die sich auf ein konkretes Beitrittsdatum freuen können. Dahinter kommen Bulgaren oder Rumänen, die in die Business Class hochgestuft wurden: Mit ihnen wird ab dem Jahr 2000 verhandelt.

Diesen Schritt muss sich die Türkei erst erarbeiten. Doch darin liegt die Chance des Beschlusses von Helsinki, der für die Europäer vergleichsweise wenig, aber für die Türken alles bedeutet. Zum ersten Mal seit Beginn ihres bewegten Verhältnisses zu Europa vor gut vier Jahrzehnten können sie sich nicht mehr hinter europäischen Doppeldeutigkeiten verstecken. Sie sind nun ohne Wenn und Aber Kandidat - mit denselben Chancen, aber auch mit denselben Pflichten.

Dies aber bedeutet, dass nun zum ersten Mal in der Türkei eine Debatte über Wohl und Wehe einer EU-Mitgliedschaft geführt werden kann - und muss. Bislang galt der Beitritt irgendwo als verbrieftes Recht, aber kaum jemand hatte sich ernsthaft Gedanken darüber gemacht, welche tief greifenden Änderungen er nach sich ziehen würde. Das Nachdenken konnte man sich stets trefflich mit dem billigen Hinweis ersparen, "dass die Europäer uns sowieso nicht wollen". Das gilt nun nicht mehr.

Deshalb stehen jetzt Pfründe und Privilegien auf dem Spiel - von Politikern, Industriellen und nicht zuletzt den Militärs. Mehr noch: Das gesamte türkische Staatsverständnis, ja sogar die kemalistische Staatsideologie, wird man auf den Prüfstand stellen müssen. Parteien- und Berufsverbote, die Unterdrückung anderer Sprachen, Bekleidungs- und Denkvorschriften, und nicht zuletzt die feiste Selbstgefälligkeit des Staates gegenüber seinen Bürgern - dies alles wird der EU-Kandidat Türkei ernsthaft diskutieren und wohl oder übel ändern müssen.

Verständlich, dass für die geduckte, zersplitterte und verängstigte Zivilgesellschaft der Türkei der Beschluss von Helsinki wie ein Tonikum wirken wird. Ebenso verständlich, dass die Vertreter der kalten Staatsmacht den Kandidatenstatus als Bedrohung empfinden werden. Sie haben noch lange nicht aufgegeben - und sie sind stark. Darum ist es bei weitem nicht sicher, ob aus dem Kandidaten dermaleinst ein Mitglied wird. Die Türkei kann sich durchaus gegen einen Beitritt entschließen. Doch dies wäre dann, für die ganze Welt sichtbar, ihre eigene Entscheidung. Dolchstoßlegenden von der perfiden Abweisung durch die Europäer fänden keinen Glauben mehr.