Süddeutsche Zeitung, 11.12.1999

EU macht die Türkei zum Beitrittskandidaten

Aufnahme von Gesprächen aber an Achtung der Menschenrechte geknüpft / Einigung auf Eingreiftruppe

Helsinki - Die Europäische Union bietet der Türkei an, offizieller Kandidat für einen EU-Beitritt zu werden. Dies beschlossen die Staats- und Regierungschefs der Union am Freitag auf ihrem Gipfeltreffen in Helsinki. In der deutschen Delegation wurde betont, der Kandidatenstatus bedeute nicht, dass die Türkei in absehbarer Zeit der EU beitreten könne. Zuvor müsse sie ein anders Land werden. Die Konferenz beschloss, ihre Erweiterungsverhandlungen auf weitere sechs Staaten Mittel- und Südeuropas auszudehnen. Die Staats- und Regierungschefs einigten sich ferner auf die Einrichtung einer schnellen Eingreiftruppe.

Von Stefan Ulrich Die Verhandlungen mit Rumänien, Bulgarien, Lettland, Litauen, der Slowakei und Malta sollen in den kommenden Monaten beginnen. Bereits seit März 1998 verhandelt die EU mit Polen, Ungarn, Tschechien, Estland, Slowenien und Cypern über eine Mitgliedschaft. Somit könnte die Union in absehbarer Zeit von derzeit 15 auf 27 Mitgliedstaaten wachsen. Einen konkreten Zeitpunkt für erste Beitritte setzte die Gipfelkonferenz bewusst nicht. Dieser hänge vor allem von den Reformfortschritten der einzelnen Kandidaten ab, hieß es.

Heftig gerungen wurde in Helsinki über die Frage, ob die Türkei den Status eines Kandidaten erhalten soll. Während sich die meisten EU-Staaten bereits vor der Konferenz darüber einig waren, leistete Griechenland bis zuletzt Widerstand. Athen forderte unter anderem ein Nachgeben der Türkei im Streit um einen möglichen EU-Beitritt des griechischen Teils Cyperns. Der finnischen Ratspräsidentschaft gelang es schließlich, einen Kompromissvorschlag durchzusetzen. Danach soll die Türkei den von ihr seit langem angestrebten Kandidatenstatus erhalten.

Zurückhaltung in Ankara

Gleichzeitig fordert der Europäische Rat jedoch, dass alle Bewerber ihre Streitigkeiten mit anderen Staaten politisch lösen. Gelingt dies nicht, soll der Internationale Gerichtshof in Den Haag eingeschaltet werden. Diese Bestimmungen gelten formal für alle Bewerberstaaten, sind aber in erster Linie an Ankara gerichtet. Die Türkei ist mit Griechenland wegen der Grenzziehung in der Ägäis und wegen der geteilten Insel Cypern zerstritten. Athen verlangt, dass der griechische Teil Cyperns notfalls auch alleine der EU beitreten kann, was Ankara ablehnt. Der Beschluss von Helsinki hält die Möglichkeit eines isolierten Beitritts des griechischen Inselteils offen. Dies wird als Erfolg Athens gewertet.

In Kreisen der deutschen Delegation wurde betont, ein Kandidatenstatus für die Türkei bedeute keineswegs, dass auch schon über eine Aufnahme des Landes verhandelt werde. Zuvor müsse Ankara die so genannten Kopenhagener Kriterien erfüllen, die die Achtung der Menschenrechte, eine gefestigte Demokratie und stabile Marktwirtschaft vorschreiben. Wenn die Türkei diese Bedingungen erfülle, dann sei sie ein anderes Land und willkommen. Der Kandidatenstatus solle dem Land heute signalisieren: "Wir diskriminieren Euch nicht, weil ihr ein islamisches Land seid."

Bundesaußenminister Joschka Fischer begrüßte den Türkei-Beschluss und lobte, Griechenland habe sich verantwortungsbewusst gezeigt. Die türkische Regierung reagierte dagegen zurückhaltend. Sie werde das Angebot prüfen und dann über eine Annahme entscheiden, hieß es. Der EU-Beauftragte für die Außen- und Sicherheitspolitik Javier Solana und der Erweiterungskommissar Günter Verheugen reisten am Freitag nach Ankara, um der türkischen Regierung das EU-Angebot dazulegen.

Die Staats- und Regierungschefs betonten in Helsinki, die Union müsse sich auch ihrerseits für eine Ost- und Süderweiterung reformieren. Eine Regierungskonferenz soll im Laufe des kommenden Jahres die nötigen Vertragsänderungen ausarbeiten. Das Ratifikationsverfahren in den Mitgliedstaaten solle 2002 abgeschlossen und die Union dann zur Aufnahme neuer Mitglieder bereit sein. Durch die Reform sollen vor allem die Größe und Zusammensetzung der Kommission und die Gewichtung der Stimmen der Mitgliedstaaten im Rat geändert werden. Außerdem soll es mehr Möglichkeiten für Mehrheitsentscheidungen geben.