Neue Züricher Zeitung, 11.12.1999

Beschränktes Engagement der Presse

Die Flüchtlinge am Rand der politischen Diskussionen

C. W. Die Flüchtlingspolitik hatte in der Kriegszeit keine direktdemokratischen Tests zu bestehen, und das Vollmachtenregime schränkte auch den parlamentarischen Einfluss ein. Indessen lässt sich fragen, wie die Probleme in der Öffentlichkeit aufgenommen und speziell in der Presse behandelt wurden. Kurt Imhof, Assistenzprofessor für Soziologie an der Universität Zürich, Patrick Ettinger und Boris Boller haben dies im Auftrag der Bergier-Kommission anhand von acht Zeitungen untersucht. Durchkämmt wurden die «Neue Zürcher Zeitung», der «Tages-Anzeiger», die «Tagwacht», das «Vaterland», das «Journal de Genève», «La Liberté», das «Giornale del Popolo» und der «Corriere del Ticino».

Konsens über «Transitland»

Der Gesamtbefund lautet, dass die Flüchtlinge kein zentrales Thema der Presse waren. In den Zeitungen dominierten Themen wie Landesverteidigung und Aussenpolitik, Rationierung und Inflationsbekämpfung, Finanzreform und Bundesratsbeteiligung der SP. Von 1938 bis 1947 finden sich nur acht flüchtlingsbezogene «Medienereignisse» (Sinneinheiten, die von den Zeitungen aktiv gestaltet wurden) unter den ersten zwanzig einer Zeitung und eines Jahres, fünf davon ab 1945. In einzelnen Phasen verdichtete sich jedoch die Publizität. In der ersten, im zweiten Halbjahr 1938, zeichneten sich bereits Grundzüge ab, die für die spätere Haltung kennzeichnend waren. So bestand stets Konsens über die Rolle der Schweiz als blosses Transitland. Die (für die Emigranten enttäuschende) Konferenz von Evian bestätigte diese Konzeption und wurde daher als Erfolg gewertet. Selbst die sozialdemokratische Berner «Tagwacht», die eine grosszügige Aufnahme von Flüchtlingen aus dem «angeschlossenen» Österreich forderte, rüttelte (wie auch die Hilfswerke) nicht an diesem Selbstverständnis, das eine etwas dauerhaftere Asylgewährung durch die im Krieg eingeschlossene Schweiz schlecht stützen konnte.

Einige der Hauptargumente gegen eine liberale Politik wurden schon früh vorgebracht: Arbeitslosigkeit, Gefahr der Übervölkerung und der Überfremdung. Den Fluchtursachen schenkten die untersuchten Zeitungen durchaus grosse Beachtung, aber mit Ausnahme der zwei Westschweizer Organe stellten sie auch später keine direkte Verbindung zwischen der Asylsuche in der Schweiz und namentlich den Judenverfolgungen her.

Hilfsbereitschaft und Abwehr

Intensiv befassten sich die Zeitungen mit der Internierung französischer Truppen vom Sommer 1940 bis zum Februar 1941 und begleiteten die Aufnahme mit Meldungen und Reportagen. Noch mehr als bei dieser Gelegenheit wurde anlässlich der Ferienaktionen für Flüchtlingskinder (namentlich aus Frankreich) die Hilfsbereitschaft des «ganzen» Volks hervorgehoben. Diese vor allem 1942 zahlreichen, oft emotional gefärbten Darstellungen einer humanitären Schweiz legten einen Boden für die öffentliche Reaktion auf die Rückweisungen, die im August jenes Jahres von der linken «Sentinelle» bekanntgemacht wurden. Besonders die Deutschschweizer Zeitungen vertraten die Ansicht, die Behörden handelten nicht im Einklang mit der Bevölkerung, während sich die anderen Blätter eher auf der offiziellen, restriktiven Linie bewegten und der «Corriere» sich abschätzig über einen Teil der Flüchtlinge (fuggiaschi mit materiellen Motiven) äusserte.

Die Kritik beispielsweise der NZZ galt Einzelfällen, «in denen das ‹kälteste aller kalten Ungeheuer›, der Paragraph, einen restlosen Sieg über das ihm entgegenstehende Gebot der einfachen Menschlichkeit davongetragen hat». Der Kritik am Bundesrat und damit an der grundsätzlichen Politik enthielt sich auch die sehr engagierte «Tagwacht». Die humanitäre Tradition wurde in einem Spannungsverhältnis zur Staatsräson gesehen. Nach der Nationalratsdebatte im September beruhigte sich die Kritik. Die Autoren vermuten, die Asylpraxis sei durch die Presse beeinflusst worden. Georg Kreis sieht in einem zusätzlichen Beitrag nur die Ansetzung einer Parlamentsdebatte als Folge des öffentlichen Protests; dann hätten sich die betreffenden Zeitungen rasch mit beruhigenden oder gar täuschenden Erklärungen der Regierung zufriedengegeben. - 1943 kam es zu Kontroversen um die Flüchtlinge aus dem deutsch besetzten Italien. Die Warnung der Alliierten vor der Aufnahme von Kriegsverbrechern provozierte da und dort eine Betonung der schweizerischen Souveränität, ohne dass sich daraus gleich die Forderung nach einer bestimmten Asylpraxis ergab. In den letzten Kriegsjahren waren die Internierten - ihr Verhalten wie ihre Behandlung in den Lagern - Objekt grösserer Debatten. Die Vorwürfe des Schweizerischen Vaterländischen Verbands wurden verschiedentlich als antisemitisch zurückgewiesen. Die Nachkriegszeit - Ost-West-Konflikt und Verbesserung des Verhältnisses zu den Westalliierten - kündigte sich an in der Polemik um sowjetische Internierte und in Kommentaren zur Frage der Grenzöffnung im Frühjahr 1945.

Zensur mit milden Seiten

Welche kritische Information wäre in der Kriegszeit überhaupt möglich gewesen? In einer beigefügten Studie kommt Georg Kreis zum Schluss, «dass man das nachgewiesenermassen beschränkte Presseengagement für die Flüchtlinge nicht mit der Beschränkung der Zensur erklären beziehungsweise rechtfertigen kann». Zwar gab es recht strenge Restriktionen wie ein Verbot oder eine Vorzensur bezüglich der Vorgänge an der Grenze, eine Kontrolle der Berichte über Internierte, vor allem über ihre Kriegserlebnisse, und Einschränkungen bei der Schilderung von Fluchtgründen, die sich auf die asylpolitische Haltung hätte auswirken können. Wie der Autor zeigt, waren aber die Sanktionen in der Regel milde: Rügen, Verwarnungen, vereinzelt generelle Vorzensur für eine bestimmte Zeit. Die Zensurmassnahmen sollten hauptsächlich aussenpolitische Komplikationen verhindern, während für die innen- und insofern auch für die asylpolitische Diskussion ein Freiraum bestand. Kreis deutet an, dass dieser nach seiner Ansicht tatkräftiger hätte ausgenützt werden können. Aber beispielsweise die Konzeption der «Flüchtlinge nur aus Rassegründen» wurde bis Mitte 1943 nicht in Zweifel gezogen. Konstatiert wird schliesslich, dass weniger die Menschlichkeit an sich als das Selbstbild der humanitären Nation leitend gewesen sei.