Neue Züricher Zeitung, 11.12.1999

Die Flüchtlingspolitik in rechtlicher Sicht

Juristisches Lehrstück für historische Arbeit

fre. Für den Flüchtlingsbericht hat die Bergier- Kommission beim Berner Rechtslehrer Walter Kälin ein Gutachten «Rechtliche Aspekte der schweizerischen Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg» in Auftrag gegeben und dem eigenen Text beigefügt. Die 184seitige Studie zu diesem Teilgebiet entspricht wohl, eher noch als der Flüchtlingsbericht selbst, den Absichten des Parlaments, welches in der Diskussion zum grundlegenden Bundesbeschluss für die Bergier-Kommission der Erwartung Ausdruck gegeben hatte, «die Wahrheit» zu erfahren, die Wertung jedoch der Politik vorzubehalten. Der Leser erfährt aus dem dicht geschriebenen Gutachten, was damals staats- und völkerrechtlich wirklich galt, was umstritten war, was als Vorgriff auf spätere Entwicklungen bereits diskutiert wurde, was erst später galt und wie das Damalige aus heutiger Sicht eingestuft werden könnte.

Kein Asyl für «Nichtpolitische»

Kälin selber zieht folgendes Fazit: «Auf landesrechtlicher Ebene war das Flüchtlingsrecht vieler europäischer Staaten vor und während des Zweiten Weltkriegs von einem weit engeren Flüchtlingsbegriff geprägt, der auf das 19. Jahrhundert zurückgeht. Dies galt auch für die Schweiz: Nur gerade für «politische Flüchtlinge», d. h. Personen, die wegen verbotener politischer Aktivitäten in ihrem Herkunftsstaat gefährdet erschienen, war die Möglichkeit der Asylgewährung und eines Schutzes vor Rückschiebung gesetzlich verankert. Für Personen, die aus anderen Gründen verfolgt wurden, sah das schweizerische Landesrecht keinen besonderen Status oder Schutz vor. Damit wurden namentlich Juden und andere Personen, die wegen ihrer Rasse verfolgt wurden, vom Asylrecht nicht erfasst.

Die Pflicht zur Deponierung von Flüchtlingsvermögen und die rechtliche Behandlung der Flüchtlinge in den Internierungs- und Flüchtlingslagern waren zwar nicht durchgängig, jedoch weitgehend mit dem geltenden Landes- und Völkerrecht vereinbar, soweit sie nicht im Lichte der konkreten Umstände als schikanös einzustufen waren oder gegen konkrete Verpflichtungen aus Niederlassungsverträgen verstiessen. Das zeitgenössische Recht schützte Individuen nur schwach: Das Konzept der Menschenrechte existierte im Völkerrecht noch kaum, und das Verständnis der Grundrechte war nicht frei von autoritären Tendenzen.

Rechtliche Grauzone

Problematisch war die Erhebung einer Solidaritätsabgabe, soweit ihr Niederlassungsverträge entgegenstanden, welche Emigranten und Flüchtlinge mit Toleranzbewilligung schützten. Rechtsprobleme ergeben sich auch in Hinblick auf den «J»-Stempel. Auch wenn der Beschränkung der Einreisemöglichkeit der deutschen Juden nach damaligem Verständnis kein verfassungsrechtliches Diskriminierungsverbot entgegenstand, verstiess sie doch gegen den Niederlassungsvertrag mit Deutschland, und unter dem Gesichtspunkt des schweizerischen Ordre public bewegte sich die Massnahme zumindest in einer rechtlichen Grauzone. Auch nach damaligen Massstäben rechtlich höchst problematisch war die Tatsache, dass die Schweiz Deutschland die Möglichkeit einräumte, gegenüber Schweizern jüdischen Glaubens dieselben Beschränkungen zu verhängen.

Aus heutiger Sicht und im Rahmen einer Beurteilung nach heutigem Recht wäre die Behandlung von Flüchtlingen, die während des Zweiten Weltkrieges in der Schweiz aufgenommen wurden, in verschiedenen Hinsichten als rechtswidrig einzustufen. Soweit eine Beurteilung aus zeitgenössischer Sicht über weite Strecken zu einem anderen Ergebnis kommt, hat dies verschiedene Gründe:

Hauptursache ist ein zeitgenössisches Recht, welches im Einklang mit dem damaligen Rechtsverständnis die Schaffung und Erhaltung von Spielräumen für staatliches Handeln deutlich stärker betonte als den Schutz individueller Interessen und Bedürfnisse. Konkrete Auswirkungen waren beispielsweise die Reduktion des Gleichheitsgebotes auf ein reines Willkürverbot oder eine Grundrechtspraxis, welche Eingriffe bereits dann für verfassungskonform hielt, wenn sie eine gesetzliche Grundlage hatten und inhaltlich nicht geradezu willkürlich waren.

Auf völkerrechtlicher Ebene macht sich das völlige Fehlen von Menschenrechtsgarantien bemerkbar, welche seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs so wichtig geworden sind und die Beurteilung des Verhaltens staatlicher Macht gegenüber Individuen wesentlich verändert haben. Der fremdenrechtliche Mindeststandard des zeitgenössischen Rechtes vermochte die menschenrechtliche Perspektive nicht zu ersetzen, da er - abgesehen vom Eigentumsschutz und prozessualen Rechten - eben blosse Mindestgarantien bot.

Ebenfalls bemerkbar macht sich das fast völlige Fehlen völkerrechtlicher Normen über den Rechtsstatus von Flüchtlingen. Sie wurden deshalb juristisch gar nicht als Menschen mit speziellen Schutzbedürfnissen wahrgenommen, sondern anderen unerwünschten Ausländern gleichgestellt. Die Arbeiten des Völkerbundes zum Schutz der Flüchtlinge fanden auf innerstaatlicher Ebene keinen Widerhall.

Zentraler Faktor ist die Tatsache, dass die Schweiz die meisten Zivilpersonen, welche in die Schweiz kamen, nie als Flüchtlinge im Sinn des Asylbegriffs von Art. 21 des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) anerkannt hatte. Dadurch wurde ein fremdenpolizeirechtlicher Mechanismus ausgelöst, welcher gemäss dem bereits vor dem Krieg erlassenen ANAG diese Menschen automatisch als Personen ohne Anwesenheitsberechtigung und mit Ausreiseverpflichtung einstufte, die als unerwünschte Ausländer zu internieren waren. Deshalb konnten diese Personen rechtlich gar nicht als Menschen in Not wahrgenommen werden. Mit anderen Worten: Die teilweise harsche Behandlung, wie die Rechtsordnung sie vorgab, war zu einem grossen Teil Konsequenz der Restriktionen beim Zugang zur Schweiz.

Schliesslich fehlte den Behörden dort, wo sie Massnahmen an die Folgen der deutschen Rassengesetze anknüpften (J-Stempel, Entzug der Niederlassungsbewilligung von ausgebürgerten deutschen Juden), jede Sensibilität dafür, dass - wie das Bundesgericht schon während des Krieges festgestellt hatte - diese Gesetze dem schweizerischen Ordre public widersprachen und deshalb für die schweizerischen Behörden unbeachtlich bleiben mussten.»

Kälins Gutachten enthält auch Informationen über die entsprechenden Rechtsstandpunkte anderer Konfliktparteien. Dabei ist es allerdings keineswegs so, wie man hierzulande gerne annimmt, dass die Schweiz wesentlich besser dastand als die andern. Sicher nahm sie - was letztlich das Entscheidende war -, in absoluten Zahlen mehr Flüchtlinge auf als etwa die Vereinigten Staaten. Aber der Konvention von 1938 über die Stellung der Flüchtlinge aus Deutschland blieb sie zum Beispiel fern und gab auch, anders als die USA, keine Erklärung ab, den Flüchtlingen mindestens die vorgesehenen Rechte einzuräumen.

Besonderheiten des Vollmachtenregimes

Einen zentralen Aspekt des rechtlichen Umfelds behandelt Kälin (beziehungsweise der damit beauftragte Jörg Künzli) mit dem Vollmachtenbeschluss vom 30. August 1939. Dieser räumte dem Bundesrat die Befugnis ein, vom geltenden Recht ungeachtet der Normstufe abzuweichen. «Darüber, dass der Bundesrat nicht nur von den Bundesgesetzen, sondern auch von der Bundesverfassung und vom kantonalen Recht abweichen durfte, bestand sowohl in der Doktrin als auch in den Materialien Einigkeit. Der Bundesrat war deshalb insbesondere auch befugt, Massnahmen zu ergreifen, welche den Grundrechten oder der Zuständigkeitsordnung zwischen Bund und Kantonen widersprachen. Schranken ergaben sich aber aus der Zweckbindung des Notrechts: Wiederholt führte der Bundesrat selber aus, er sei zur Rechtssetzung nur so weit befugt, als es die Not erheische. Notrechtsverordnungen des Bundesrates konnten sich somit nur rechtmässig auf den Vollmachtenbeschluss abstützen, soweit sie dem Zweck dienten, das politische und wirtschaftliche Überleben der Schweiz zu sichern.»

Beim Vergleich des eigentlichen Flüchtlingsberichts mit dem Gutachten Kälins stellt sich die Frage, ob und wieweit sich die Expertenkommission von den Überlegungen ihres Gutachters beeindrucken liess. Nicht allzusehr, müsste die Antwort wohl heissen, wenn man etwa den apodiktischen Befund der Historiker zur «Unrechtmässigkeit» gewisser rechtlicher und administrativer Massnahmen der Schweiz liest.