Tagesspiegel, 10.12.1999

Die Erwartungen der Türkei an den Helsinki-Gipfel sind groß

Thomas Seibert

Selten hat ein außenpolitisches Ereignis die Türkei so in den Bann geschlagen wie der EU-Gipfel in der finnischen Hauptstadt: Politiker und Medien fahnden seit Tagen überall nach Hinweisen darauf, dass die Türkei vier Jahrzehnte nach ihrem ersten Europa-Antrag im Jahr 1959 endlich offiziell auf die Liste der Beitrittskandidaten aufgenommen wird. Äußerungen europäischer Politiker werden zerpflückt, Zeitungen zählen die Stunden bis zum Gipfelbeginn, in Sondersendungen analysieren Fernsehsender die Chancen der Türkei. Die Tatsache, dass mit dem Kandidatenstatus noch längst keine Beitrittsgespräche verbunden sind und dass die Türkei auch als Kandidat weiter am Katzentisch der EU sitzen würde, tut der Spannung keinen Abbruch: "Es geht um ein Zeichen, dass wir dazugehören - mehr wollen wir gar nicht", sagt der Politikwissenschaftler Nail Alkan. Vor fast genau zwei Jahren, beim EU-Gipfel in Luxemburg im Dezember 1997, waren die türkischen Hoffnungen auf eine weitere Annäherung an Europa enttäuscht worden. Vor Wut darüber, dass die Türkei nicht als Kandidat zugelassen wurde, brach Ankara damals den politischen Dialog mit Brüssel ab; eine lange Eiszeit in den Beziehungen folgte. Vor Helsinki überwiegt zwar die Zuversicht, der Schock von Luxemburg sitzt aber immer noch tief. Außenminister Ismail Cem schärft seinen Landsleuten deshalb vorsichtshalber ein, eine erneute Abfuhr sei nicht das Ende der Welt, weil die Türkei nicht auf die Europäer angewiesen sei.

Ankara bereitet sich auf drei mögliche Gipfel-Ergebnisse vor: eine Zustimmung zum türkischen Antrag, eine Ablehnung und ein "Ja, aber" - eine Anerkennung des Kandidatenstatus' mit gleichzeitigem Hinweis auf Bedingungen für die Türkei. Besonders die letzte Möglichkeit bereitet den türkischen Außenpolitikern Kopfzerbrechen, denn in diesem Fall muss Ankara abwägen, ob die Zusatzbedingungen es wert sind, die seit Jahren angestrebte Anerkennung als Kandidat zurückzuweisen.

Um der EU aber möglichst wenig Anlass für Einschränkungen des Bewerberstatus zu geben, sendet die Türkei dezente Signale an die Europäer. Das gilt vor allem für den Fall Öcalan, bei dem sich die Türken unter besonders argwöhnischer Beobachtung aus Europa wissen. Spitzenpolitiker betonen immer wieder, dass die Türkei vor einer Hinrichtung Öcalans das Urteil des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofes abwarten sollte.