Tagesspiegel, 10.12.1999

Wie europäisch ist die Türkei? Begegnungen zwischen Istanbul und Ankara

Hans Christoph Buch

"Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke, der Türke ein", lautet der erste Satz von Karl Mays "Winnetou". May hatte dabei das Aussterben der amerikanischen Indianer ebenso im Sinn wie die Sorge um den "kranken Mann am Bosporus", dessen Agonie mit der Auflösung des Osmanenreichs keineswegs beendet war. Auch 75 Jahre nach ihrer Gründung ist die von Kemal Atatürk aus der Taufe gehobene Republik nicht der moderne, demokratische und laizistische Staat, den türkische Politiker stets wortreich beschwören, um den Anspruch ihres Landes auf Aufnahme in die EU zu begründen. Und wie im untergehenden Sultanat mischt sich das Eingeständnis eigener Fehler mit Klagen über das Unverständnis der Europäer, mischen sich antiwestliche Ressentiments und Überempfindlichkeit gegen Kritik zu einem Amalgam, das Diskussionen mit türkischen Intellektuellen zu einem mühsamen Eiertanz macht. Diese Erfahrung machten jetzt wieder deutsche Autoren, die auf Initiative der Adenauer-Stiftung zum Meinungsaustausch mit türkischen Schriftstellern nach Ankara kamen. Zensur und Selbstzensur

So erklärte ein Vertreter des türkischen Kulturministeriums, es sei nicht genug Papier zum Drucken von Büchern da, und verkündete gleichzeitig, die Regierung gebe zwei Millionen Dollar für die Verbreitung der Schriften von Kemal Atatürk aus - dessen Porträt, wie einst im Sozialismus die Ikone Lenins, in der Türkei jede Amtsstube schmückt. Zugleich gewinnt die von Atatürk propagierte Trennung von Religion und Gesellschaft, Kirche und Staat im Zeichen des Fundamentalismus neue Aktualität.

"Wo die Religion herrscht, muss die Literatur den Saal verlassen", befand der Istanbuler Lyriker Demirtas Ceyhun und verband seine Absage an den islamischen Gottesstaat mit beißender Kritik an türkischen Militärregimes, die drei Mal - 1961, 1974 und 1980 - Schriftsteller und Intellektuelle "wie vergilbtes Laub" von der Straße gefegt und in die Verbannung oder in Gefängnisse gesteckt hatten, wo Foltern keine Ausnahme, sondern die Regel war. Beim Besuch von Harold Pinter und Arthur Miller 1985 in Istanbul erhoben sich auf die Frage, wer von ihnen schon einmal inhaftiert gewesen sei, alle im Saal anwesenden türkischen Schriftsteller von ihren Plätzen: ein Augenblick der Wahrheit, den der Autor der "Hexenjagd" in seiner Autobiographie verewigt hat.

Demgegenüber wies die CDU-Bundestagsabgeordnete und frühere DDR-Dissidentin Vera Lengsfeld am Beispiel der DDR darauf hin, dass auch unter dem Druck der Zensur bedeutende Literatur entstehen könne, weil der Autor seine Worte auf die Goldwaage legen muss. Die Meinungsfreiheit verführe dagegen nach dem postmodernen Prinzip des "anything goes" zur literarischen Beliebigkeit. Kein Plädoyer zur Wiedereinführung der Zensur, wohl aber gegen die Politisierung der Literatur, wobei Vera Lengsfeld sich auf Ernst Jünger und Botho Strauss als Kronzeugen berief. Der Ost-Berliner Autor Lutz Rathenow schilderte die subtile Wechselwirkung von vorauseilendem Gehorsam, Zensur und Selbstzensur, und die Lyrikerin Gülten Akin beschwor das Dilemma islamischer Frauen zwischen Tradition und Moderne mit einem Vers als poetisch-surrealem Aufschrei: "He, Kapitän, ich bin weder ein Wal, noch dein Blauwal!" Gesprächsstoff gab es mehr als genug, aber die meiste Zeit redeten türkische und deutsche Literaten auf hohem Niveau aneinander vorbei, weil Lyriker und Romanciers nicht zu einer gemeinsamen Sprache fanden, oder weil das Thema "Literatur und Politik" sie zu ideologischem Geschwafel verleitete.

Aufschlussreicher als intellektuelle Fensterreden sind die Begegnungen und Gespräche mit Politikern, welche die komplexe Gemengelage in der Türkei am Vorabend der über die EU-Kandatur entscheidenden Helsinki-Konferenz wie im Brennglas gebündelt sichtbar machen. "In den letzten fünf Monaten hat es kleine Fortschritte gegeben", sagt der Rechtsanwalt Hüsnü Öndül, 46, Vorsitzender des Regierungsunabhängigen Menschenrechtsvereins, der überall im Land Filialen und 16 000 Mitglieder hat. Beamte und Polizisten würden zur Einhaltung der Bürger- und Menschenrechte aufgerufen, Beschwerden gegen Amtsmissbrauch nicht länger unterdrückt; die Kompetenz der Militärgerichte solle eingeschränkt werden, und Verstöße gegen das Mediengesetz würden nicht mehr mit drakonischen Strafen geahndet. Auch mache die von der PKK verkündete Waffenruhe und ihr Verzicht auf die Gründung eines eigenen Staates endlich die friedliche Lösung des Kurdenkonflikts möglich. Zwar könne die Vollstreckung des Todesurteils gegen Kurdenführer Öcalan eine neue Gewaltwelle auslösen bis hin zu öffentlichen Selbstverbrennungen, aber durch die Einschaltung des europäischen Gerichts in Straßburg gewinne die türkische Regierung genügend Zeit, um die Todesstrafe abzuschaffen unter Hinweis auf den geplanten Beitritt zur EU. "Der Druck des Auslands darf nicht nachlassen", erklärt der Rechtsanwalt, "aber Proteste sollten maßvoll und vorsichtig formuliert sein."

Hüsnü Öndül arbeitet unentgeltlich für den Menschenrechtsverein und sagt auf Befragen, er fürchte nicht um sein Leben, doch die mit Filzstift markierten Einschusslöcher in der Tür sprechen eine andere Sprache: Am 12. Mai 1998 wurde sein Vorgänger am Schreibtisch von Kugeln zerfetzt; er selbst hat nur schwer verletzt überlebt. Dreizehn Menschenrechtsaktivisten sind Mordanschlägen zum Opfer gefallen, und erst vor wenigen Tagen, am 26. November, drang ein Schlägertrupp der den nationalistischen Grauen Wölfen nahestehenden MHP in das Vereinsbüro ein, misshandelte die Angestellten, verwüstete die Räume und riss vor den Kameras eines japanischen TV-Teams die Erklärung der Menschenrechte von der Wand. Die telefonisch herbeigerufene Polizei unternahm nichts und ließ die Randalierer unbehelligt abziehen. Als türkische Fernsehsender Bilder der Ausschreitungen brachten, entschuldigten sich die Grauen Wölfe bei einem japanischen Reporter, der aus Versehen, wie es hieß, von einem Fausthieb getroffen worden sei.

"Alles Lüge", sagt Bülent Akarcali, Istanbuler Abgeordneter der konservativen Mutterlandspartei ANAP, der uns in den Räumen der von ihm geleiteten Stiftung für Demokratie empfängt. "Der sogenannte Menschenrechtsverein ist ein verlängerter Arm der PKK und genießt keinerlei Glaubwürdigkeit in der Türkei. Leider wird er im Ausland noch immer ernst genommen." Bülent Akarcali hat eine Jesuitenschule besucht und ist mit einer Belgierin verheiratet. Er spricht fließend Englisch und Französisch, tritt für demokratische Reformen und für den EU-Beitritt seines Landes ein. Das Verbot kurdischer Sprache und Kultur findet er lächerlich, aber er wehrt sich gegen den Begriff "nationale Minderheiten", der der Türkei von außen aufgezwungen werde - obwohl er hier keinen Sinn ergebe, weil die von Atatürk gegründete Republik auf der Gleichheit aller vor dem Gesetz beruhe. "Wir sind Türken, sonst gar nichts. Unser Land ist ein Flickenteppich, in dem die gleichen ethnischen und religiösen Gruppen vertreten sind wie im Balkan und im Kaukasus, und ähnlich wie dort schafft das Gerede von nationalen Minderheiten nur Unfrieden. Sprechen Sie lieber von demokratischen Rechten", ruft Bülent Akarcali und hebt beschwörend den Arm, während an dem in seinem Gürtel steckenden Handy das rote Lämpchen glüht. Zum Abschied schenkt er mir eine Medaille mit dem Bild von Atatürk: als Dank für die Krawatte mit hessischem Staatswappen, die er kürzlich bei einem Besuch in Wiesbaden überreicht bekam.

Im Iran herrscht mehr Freiheit

Gerhard Duncker, der seit sieben Jahren als protestantischer Pfarrer in der Türkei lebt und von dort auch die evangelische Gemeinde in Teheran mitbetreut, sieht die Dinge ganz anders. Obwohl seine Gemeinde in Istanbul seit 150 Jahren existiert, ist er nicht bei der evangelischen Kirche, sondern am deutschen Konsulat angestellt und muss in Ankara den Gottesdienst in einer Turnhalle abhalten, weil der türkische Staat den christlichen Kirchen verbietet, Moslems zu missionieren oder gar zu konvertieren. Auf Schritt und Tritt legen die Behörden ihm Steine in den Weg.

So wurde ihm kürzlich erklärt, er mache sich strafbar, wenn er aus Deutschland gespendete Hilfsgüter für Opfer des Erdbebens an Bedürftige verteile, Kleider und Lebensmittel verrotteten in den Depots, anstatt der notleidenden Bevölkerung zugute zu kommen. "Das öffentliche Leben wird durch Bürokratie gelähmt. Ein Christ darf sich nicht zu seinem Glauben bekennen, und als Ausländer wird man durch eine spezielle Autonummer kenntlich gemacht. Derzeit herrscht im Iran mehr religiöse Freiheit als in der Türkei!"