yahoo, 8. Dezember 1999, 12:10 Uhr

CDU/CSU-Bundestagsfraktion / Lamers: Für Türken bedeutet EU Hoffnung auf innere Reformen und internationale Anerkennung

BERLIN (ots) - Zum Verhältnis Türkei - Europäische Union erscheint in der morgigen Europa-Ausgabe der türkischen Zeitung Cumhuriyet folgendes Interview mit dem außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Karl Lamers MdB: 1. Frage: Welche Perspektive sehen Sie für die Türkei und die Europäische Union? Wird sie einmal Mitglied der Europäischen Union sein?

Lamers: Die Türkei sieht sich ganz unzweifelhaft als europäisches Land und hat mit dem Assoziierungsvertrag von 1963 die Perspektive der EU-Mitgliedschaft erhalten. Wir wissen heute nicht, wann diese Mitgliedschaft Realität werden kann, vielleicht in 20, vielleicht in 30 Jahren, vielleicht aber auch früher. Wir wissen heute auch nicht, ob die Türkei dann eine Mitgliedschaft überhaupt wünscht oder in welcher Form die Türkei sie sich wünscht, vor allem zu welchem Maß an Souveränitätsverzicht sie dann bereit ist. Denn dass sich die Türkei auf Grund ihrer geografischen Lage und dann womöglich 80 bis 100 Mio. Einwohnern nicht in der Art integrieren kann und will wie z.B. Luxemburg, ist offensichtlich. Und schließlich wissen wir heute nicht, zu welcher Form der Mitgliedschaft für die Türkei die Europäische Union dann in der Lage wäre. Das sind zurzeit alles sehr spekulative Fragen, um die es sich meiner Ansicht nach deshalb heute auch nicht zu streiten lohnt.

Allerdings werfen sie schon heute die Frage nach der zukünftigen Struktur der Europäischen Union auf. Dass die Europäische Union sich schon mit der ersten Erweiterungsrunde ab dem Jahr 2003 verändern wird, ist unzweifelhaft. Deshalb verlangt schon die Perspektive darauf eine umfassende institutionelle Reform der EU. Dabei ist die Bildung einer Avantgarde oder eines Kerns von Staaten in der EU, die mit der Integration weiter voranschreiten, als andere, die dazu nicht bereit oder in der Lage sind, unerlässlich für das Überleben des europäischen Einigungswerkes. Die Notwendigkeit einer solchen Differenzierung der Mitgliedschaft in der EU offenbart sich nicht zuletzt mit Blick auf Albanien, Rumänien, einigen Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien und die Türkei, aus jeweils unterschiedlichen Gründen für die kleineren Länder einerseits und so großen Ländern wie die Türkei andererseits.. Sie böte die Möglichkeit dem jeweiligen Integrationswollen und -können eines jeden Landes im Rahmen der EU gerecht zu werden.

2. Frage: Warum sind Sie skeptisch im Hinblick auf den Beitrittskandidatenstatus, der der Türkei auf dem EU-Gipfel von Helsinki verliehen werden soll?

Lamers: Wir betrachten diese Absicht mit Sorge, weil sie die Gefahr einer gegenseitigen Überforderung und einer noch größeren Entfremdung in sich birgt. Konkrete Beitrittsverhandlungen mit der Türkei können z.B. erst aufgenommen werden, wenn die Türkei zuvor die politischen Kriterien von Kopenhagen erfüllt. Das kann aber noch Jahre dauern. Denn diese Kriterien, die alle EU-Beitrittskandidaten vor Beginn der Beitrittserhandlungen erfüllen müssen, würden von der Türkei schwierige Reformen im Hinblick auf die demokratische Verfasstheit des Landes und die Rolle des Militärs, die Menschenrechtslage und das Kurdenproblem erfordern. Deshalb haben wir die Sorge, dass mit dem Kandidatenstatus bei der türkischen Bevölkerung Illusionen geweckt werden, die, wenn sie kurzfristig nicht erfüllt werden können, in eine große Enttäuschung und damit noch größere Entfremdung münden können.

3.Frage: Befürchten Sie nicht, dass Sie mit dieser Position die Türken enttäuschen?

Lamers: Wenn wir diesbezüglich ehrlicher sind, dann deshalb, weil wir als Freunde der Türkei ihr diese Enttäuschung ersparen wollen. Sollte die Türkei schneller voranschreiten als erwartet, umso besser. Wir würden uns freuen und möchten sie nicht nur ermutigen, sondern auch unterstützen. So haben wir für die Türkei ganz konkret EU-Beratungsprogramme in der Innen- und Rechtspolitik, bei der Anpassung des Rechts- und Verwaltungsapparates an EU-Standards und die Unterstützung für eine Verfassungsreform vorgeschlagen. Unerlässlich ist auch, dass die EU ihre eigenen Verpflichtungen aus dem Finanzprotokoll zur Zollunion erfüllt, sich intensiver um eine Annäherung zwischen Griechenland und der Türkei bemüht und diese zu einer einvernehmlichen Lösung ihrer bilateralen Probleme kommen.

Dass es zu der Enttäuschung über einen für die türkische Bevölkerung zu schleppenden Beitrittsprozess nicht kommt, liegt aber mehr noch und damit ganz wesentlich in der Macht der türkischen Politiker. Nach dem Assoziierungsabkommen von 1963 haben sie keine großen Anstrengungen unternommen, die Türkei, obwohl diese dadurch die Beitrittsperspektive bekommen hatte, beitrittsfähig zu machen. Das muss sich nun ändern, denn die türkische Bevölkerung wird ungeduldig. Sie will den Weg nach Europa gehen. Den müssen ihr die Politiker weisen.

4. Frage: Wie ist das derzeitige Verhältnis zwischen der CDU und ANAP?

Lamers: Im Grunde haben wir ein gutes Verhältnis zueinander, das auf Grund der EU- Fragen zurzeit jedoch eingetrübt ist. Ich glaube jedoch, dass wenn die Entscheidung auf dem Helsinki-Gipfel zu Gunsten des Beitrittskandidatenstatus fällt und die ANAP damit verantwortungsbewusst umgeht, d.h. sich dann auch glaubwürdig für die notwendigen Reformen einsetzt, für eine Politik, von der unsere beiden Parteien glauben, dass sie gut für die Türkei wäre, sich diese Eintrübung schnell aufhellen wird. Es gibt so viele drängende internationale Fragen, die eine engere Zusammenarbeit zwischen unseren Parteien wünschenswert machen, zumal die Türkei international eine wichtige Rolle spielen kann und muss. Insofern verwundert nicht nur bei der ANAP, sondern allgemein in der Türkei die ausschließliche Ausrichtung auf die Europäische Union und die hohe Emotionalisierung dieser Frage. Ich kann dies nur insofern verstehen, als der Beitrittskandidatenstatus von den Türken, übrigens auch von der türkisch-stämmigen Bevölkerung in Deutschland, als Anerkennung verstanden und mit der Hinwendung zur EU die Hoffnung auf viele innere Reformen in der Türkei verbunden wird. Diese Reformen sind jedoch notwendig, auch ohne Europa. Aber ich will gerne eingestehen: Europa hat auch uns schon manche Reform erleichtert, wie der Euro gezeigt hat. Aber Europa nimmt einem die Arbeit nicht ab.

5. Frage: Sie haben Herrn Mesut Yilmaz bei seinem kürzlich in Berlin stattgefundenen Besuch kritisiert. Worauf beruht Ihre Kritik an Herrn Yilmaz?

Lamers: Herr Yilmaz wirft uns immer wieder vor, wir sähen in der EU eine Christliche Union, in dem die Türkei als muslimisches Land keinen Platz haben könne. Dies ist aber nicht wahr. Das habe ich Herrn Yilmaz auch bei unserem letzten Gespräch in Berlin mehrmals gesagt und dennoch stellt er danach öffentlich die gleiche, falsche Behauptung auf. Das ist nicht redlich.

Diese Erfahrung mache ich aber leider häufig, dass nämlich meine türkischen Gesprächspartner auf Grund der hohen Emotionalität, mit der die EU-Fragen behandelt werden, einer rationalen Betrachtung gegenüber nicht aufgeschlossen sind. Eine sachgerechte, nüchterne Diskussion über die Chancen und Perspektiven der Türkei ist häufig gar nicht möglich, so dass sich mir zuweilen der Verdacht aufdrängt, dass sie nicht hören wollen, was sie doch selber wissen, aber nicht wahr haben wollen. Deswegen wird jedes Argument so leicht mit dem Hinweis, diese seien vorgeschoben und sollten nur kaschieren, dass wir mit ihnen als Muslime nichts zu tun haben wollten, beiseite geschoben.

Wenn wir aber tatsächlich meinten, die EU ließe sich mit dem muslimischen Glauben nicht vereinbaren, dann müssten wir gegen die Integration der in Deutschland lebenden Muslime sein. Dies ist aber nicht der Fall. Die CDU ist diejenige Partei, die sich am konkretesten Gedanken zur Integration der muslimischen Mitbürger gemacht und ein entsprechendes Konzept vorgelegt hat. Wir sind dagegen sogar der Ansicht, dass die christlich geprägten Staaten gemeinsam mit den dort lebenden muslimischen Bürgern einerseits und der Türkei als laizistisch-muslimischen Staat andererseits ein Modell für die Vereinbarkeit von Christentum und Islam, d.h. auch von Islam und Moderne entwickeln müssen, das für andere islamische Länder beispielhaft und damit eine Antwort auf eine der großen Herausforderungen des nächsten Jahrhunderts sein kann.

6. Frage: Wie bewerten Sie die Außenpolitik von Außenminister Fischer bezüglich der Türkei?

Lamers: Die Türkeipolitik von Außenminister Fischer ist widersprüchlich und damit nicht glaubwürdig. Er kann nicht einerseits die Initiative dafür ergreifen, dass der Türkei der EU-Beitrittskandidatenstatus gegeben wird und sie zugleich für nicht vertrauenswürdig genug erachten, ihr als NATO-Partner einen Testpanzer zu liefern. Ich hätte dies als Brüskierung empfunden. Diese Türkeipolitik ist zwiespältig und das weiß die Türkei, deshalb muss sie misstrauisch sein, ob der Ernsthaftigkeit des Kandidatenstatus oder der Rüstungskooperation.

7. Frage: Das von der Türkei gewünschte Panzergeschäft wird sehr kontrovers diskutiert. Wo sehen Sie die Probleme?

Lamers: Zunächst einmal wissen wir noch nicht, ob die Türkei tatsächlich dieses Panzergeschäft wünscht. Die Bundesregierung hat sich bei einem positiven Bescheid vorbehalten, über den Export der Panzer an die Türkei noch einmal zu entscheiden. Auf welcher Grundlage diese Entscheidung vorgenommen würde, ist auch noch unklar, da die Bundesregierung den Testpanzers zum Anlass genommen hat, die Exportrichtlinien zu verändern. Einer Entscheidung über die Lieferung von Panzern käme auf jeden Fall eine strategische Bedeutung zu, als an ihr die Türkei sehen würde, wie die Bundesregierung sie tatsächlich beurteilt und wie glaubwürdig es der Bundesregierung mit dem Beitrittskandidatenstatus ist.

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