Frankfurter Rundschau 10.12.1999

Demütigend, irritierend - und ziemlich teuer

Der Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg macht der Türkei zunehmend zu schaffen

Von Gerd Höhler (Athen)

Eine Entschädigung in Höhe von rund 9000 Mark hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jetzt der vor sechs Jahren in der Türkei verbotenen Partei für Freiheit und Demokratie (Özdep) zugesprochen. Kein hoher Betrag, aber das Urteil hat Signalwirkung. 14 politische Parteien hat das türkische Verfassungsgericht seit dem Ende der Militärdiktatur vor 16 Jahren verboten. Seit der Straßburger Gerichtshof die Türkei aufforderte, das gegen PKK-Chef Abdullah Öcalan verhängte Todesurteil so lange auszusetzen, bis über eine Beschwerde entschieden ist, wittern viele der zwangspensionierten Parteifunktionäre ihre Chance. Der Straßburger Gerichtshof kann zwar befinden, dass Urteile nationaler Gerichte der Europäischen Menschenrechtskonvention zuwiderlaufen; aufheben aber können die Richter solche Urteile nicht. Sie können jedoch einen Staat verpflichten, "Abhilfe" zu schaffen, etwa in Form von Entschädigungen. Bei Todesurteilen oder drohenden Abschiebungen kann das Gericht den jeweiligen Staat auch auffordern, als so genannte Interims-Maßnahme die Vollstreckung auszusetzen.

Mehrere verbotene türkische Parteien haben mittlerweile den Gerichtshof angerufen, darunter auch die 1998 zwangsaufgelöste islamistische Wohlfahrtspartei (RP). Sevket Kazan, Justizminister unter dem von Mitte 1996 bis Mitte 1997 regierenden und dann von den Militärs aus dem Amt gehebelten islamistischen Premier Necmettin Erbakan, rechnet bis Ende März mit einer Entscheidung. Erbakan hofft, dass die Richter auch das gegen ihn verhängte politische Betätigungsverbot als Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention einstufen. Beistand könnte auch die islamistische Tugend-Partei (FP) suchen, Nachfolgerin der RP, gegen die gleichfalls ein Verbotsverfahren läuft. Die im Februar verbotene pro-kurdische Demokratische Massenpartei (DKP) hat ebenfalls Straßburg angerufen. Weil solche Verbote in der Türkei mit der Beschlagnahme des Parteivermögens einhergehen, könnten Entschädigungsansprüche beträchtliche Höhen erreichen.

Dass sich die Straßburger immer häufiger mit der Türkei befassen, sorgt in Ankara für Irritationen. Dort weiß man: Wenn sich das Land der EU annähern will, muss es sich, wie die anderen 40 Mitglieder des Europarats, der Autorität des Gerichtshofes beugen. Doch das wird mitunter als demütigend empfunden und ist oft teuer. Kurden, die wegen der Zerstörung ihrer Häuser durch die türkische Armee oder anderer Menschenrechtsverletzungen Straßburg anriefen, sprach das Gericht oft hohe Entschädigungen zu.

Im Zusammenhang mit den Parteienverboten droht den Türken Weiteres: Das Straßburger Gericht will sich Istanbuler Zeitungen zufolge kritisch mit dem türkischen Verfassungsgericht beschäftigen. Zwei der elf Richter sind Militärs. Nachdem Ankara auf Drängen Straßburgs die Militärrichter aus den Staatssicherheitsgerichten entfernen musste, droht den Uniformierten hier das gleiche Schicksal. Glücklich dürften die türkischen Generale darüber nicht sein. Ihnen droht mit der Annäherung an Europa ohnehin ein empfindlicher Machtverlust.