yahoo, 8. Dezember 1999, 16:06 Uhr

Eine EU-fähige Türkei ist ein anderes Land

Gewährung des Kandidaten-Status «noch nicht in trockenen Tüchern» - Vielleicht in Helsinki mit Zypern an einem Tisch

Von AP-Korrespondent Thomas Rietig

Berlin (AP) Die EU-Länder waren nach Ansicht der Bundesregierung «noch nie so nah dran» wie jetzt, der Türkei den Status eines Beitrittskandidaten zur Staatengemeinschaft zu gewähren. Aber diese Entscheidung, die Ende der Woche bei der Ratstagung in Helsinki fallen soll, ist «noch nicht in trockenen Tüchern». Deutsche Skeptiker beruhigten Regierungskreise am Mittwoch in Berlin mit der Feststellung: «Eine EU-fähige Türkei ist ein anderes Land als die Türkei von heute.»

Bundeskanzler Gerhard Schröder habe eindeutig erklärt, dass zwischen der Gewährung eines Kandidatenstatus und auch nur der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen die Erfüllung der Kriterien von Kopenhagen stehe. Dabei handelt es sich um den EU-Katalog für Demokratie und Menschenrechte, den jedes EU-Land erfüllen muss und natürlich auch jeder Beitrittswillige. Die Abschaffung der Todesstrafe gehört ebenso dazu wie etwa das uneingeschränkte Bekenntnis zum Minderheitenschutz.

Auch die Bundesregierung ließ daher offen, wann die Verhandlungen aufgenommen werden könnten. Mit der Gewährung des Beitrittskandidaten-Status gehe es in erster Linie um ein «Signal der Nicht-Diskriminierung». Die in Helsinki erhoffte Entscheidung werde auch von den «Menschen in der Türkei» erwartet, die sich eine Beschleunigung der Demokratisierung davon versprechen. Immerhin weisen ernstzunehmende Umfragen etwa unter türkischen Jugendlichen aus, dass sie sich nur wenig sehnlicher wünschen als dies. Sie lehnen die Todesstrafe in deutlich stärkerem Maß ab als etwa deutsche Altersgenossen.

Möglicherweise wird sich noch in Helsinki am Samstagmittag die Nagelprobe stellen. Am Ende des anderthalbtägigen Gipfeltreffens der EU-Staats- und Regierungschefs steht nämlich bei positivem Ausgang für die Türkei ein Arbeitsessen mit dreizehn anderen Staatenlenkern: den sechs Ländern, mit denen bereits seit einiger Zeit Beitrittsverhandlungen laufen, den sechs, für die die Verhandlungen nun beginnen sollen, und der Türkei.

So werden möglicherweise der Regierungschef der Republik Zypern, Glavkos Klerides, und der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit an einem Tisch sitzen - zumindest aber ihre Vertreter - und damit eines der größten Probleme repräsentieren, das einem Beitritt noch entgegensteht: die geteilte Insel im Mittelmeer.

Relativ locker sehen deshalb Regierungskreise im Moment auch die Frage der «geographischen Finalisierung» der EU, also die Frage: Wann ist Schluss mit der Erweiterung? Zunächst seien erst mal die zwölf Staaten dran, mit denen nach Helsinki verhandelt werde. «Das muss man dann erst mal verkraften.» Die Ukraine, gar Russland, sind im Moment außerhalb der Vorstellungskraft der EU-Staats- und Regierungschefs. Letzteres auch wegen des Krieges in Tschetschenien, der das Klima zwischen Russland und der «Macht Europa», von der Schröder zurzeit gerne spricht, abgekühlt hat.