Der Bund (CH), 8.12.1999

Oberstadtleist zeigt kein Verständnis für Kundgebungen

BERNER INNENSTADT / In der Bundesstadt wird in diesen Tagen friedlich demonstriert: gegen Krieg und Todesstrafe, für Menschenrechte. Doch für den Berner Oberstadtleist sind dies der Kundgebungen zu viele: Er wirft dem Gemeinderat zu grosszügige Bewilligungspraxis vor. «Jede Kundgebung ist mit Umsatzeinbussen verbunden», begründet Geschäftsführer Thomas Tobler die restriktive Haltung seines Leists. Erneut zur Adventszeit entbrennt der Konflikt zwischen Demonstrationsrecht und Gewerbefreiheit.

dv. «Genug ist genug.»

Der Berner Oberstadtleist protestiert in einem Communiqué gegen die jüngste Serie von Kundgebungen zur Adventszeit in der Innenstadt. Nach Lesart des Leists haben seit Ende November «vier bewilligte Kundgebungen stattgefunden - mitten in der Vorweihnachtszeit, am Samstagnachmittag und Donnerstagabend». Das seien zu viele Anlässe, betont Thomas Tobler, Geschäftsführer des Oberstadtleists. «Wir verlangen kein generelles Demonstrationsverbot zur Vorweihnachtszeit», führt Tobler aus, «doch wir fordern eine restriktive Bewilligungspraxis.» Der Leist wirft dem Gemeinderat vor, er habe das Augenmass bei der Ausstellung von Bewilligungen verloren. Nach dem letztjährigen Alleingang des Polizeidirektors verteilte der Gemeinderat die Kompetenzen bei der Erteilung von Demonstrationsbewilligungen neu: In heiklen Fällen entscheidet er selbst.

Die Kundgebungen der letzten Tage in der Stadt Bern haben allerdings keine grossen Schlagzeilen verursacht; die Demonstrationen verliefen friedlich und ohne nennenswerte Probleme, wie Polizeisprecher Franz Märki bestätigt. Auf der Polizeiliste sind folgende Kundgebungen aufgeführt: Donnerstag, 25. November: Platzkundgebung des Bernischen Lehrervereins vor dem Rathaus (gegen Sparmassnahmen im Schulwesen). Gleichentags: Spontane Kundgebung von Kurden auf dem Bärenplatz (nicht bewilligt). Samstag, 27. November: Gegen 3000 Kurden protestieren gegen das Todesurteil über Abdullah Öcalan. Vor der russischen Botschaft protestiert gleichentags die Humanistische Partei gegen den Krieg in Tschetschenien. Am Mittwoch, 1. Dezember, findet zum Welt-Aids-Tag ein Fackelumzug durch die Innenstadt statt. Am Donnerstag, 2. Dezember, fordert eine Gruppe von 70 Personen die Freilassung des in den USA zum Tod verurteilten Journalisten Mumia Abu-Jamal. Überdies fanden zwei kurze Versammlungen auf dem Bundesplatz statt.

Amnesty-Friedensmarsch

Die nächste bewilligte Kundgebung findet übermorgen Freitag statt: Amnesty International AI führt zum Menschenrechtstag wiederum einen Friedensmarsch durch. Diesmal schreitet der Fackelzug ab 18.30 Uhr von der Heiliggeistkirche durch die Hauptgassen zur Nydeggkirche, um auf die «besorgniserregende Menschenrechtssituation in der Türkei» aufmerksam zu machen. Der letztjährige Marsch habe gezeigt, erinnert AI-Aktivistin Nicole Mathys, «dass das Recht auf freie Meinungsäusserung und Versammlungsfreiheit in der Stadt Bern, wie auch in der Türkei immer wieder verteidigt werden muss». Die letztjährige, nicht bewilligte AI-Kundgebung hatte bekanntlich zur Konfrontation mit dem Gemeinderat und zur Neubeurteilung der Bewilligungspraxis geführt. «Wir führen unsere Kundgebung so oder so durch», erklärt Mathys, unabhängig davon, ob sie bewilligt sei. Für dieses Jahr liegt die Bewilligung vor. Tobler will sich indes nicht auf eine inhaltliche Diskussion einlassen: Kundgebungen zur Verkaufszeit seien, ob friedlich und sinnvoll, «für den innerstädtischen Handel von allergrösster Tragweite. Sie sind in allen Fällen mit empfindlichen Frequenz- und Umsatzverlusten verbunden.» Er stelle das Grundrecht der Meinungsäusserungsfreiheit nicht in Frage, führt Tobler aus, «nur die Art und Weise der Ausübung». Die Monate November und Dezember seien für den Handel entscheidend: «In dieser Zeit werden die grössten Umsätze erzielt.» Deshalb seien die Geschäftsleute «hypersensibel und nervös». Die Innenstadtgeschäfte haben, so Tobler, gute Umsätze erzielt - dank verschiedenen Massnahmen zur Attraktivierung der Innenstadt. Berns Attraktivität und Unterhaltungswert will der Leist übrigens im nächsten Jahr mittels «flächendeckender Aktivitäten» weiter steigern.