Tages-Anzeiger (CH), 4.12.99

Funkstille beim Dammprojekt Ilisu

Trotz heftiger Proteste hatte der Bundesrat Sulzer und ABB die Exportrisikogarantie für das Dammprojekt Ilisu in der Türkei gewährt. Doch es harzt - besonders, was die ökologische und soziale Abfederung betrifft.

Von Helmut Stalder

ABB und Sulzer Hydro hatten für Lieferungen zum Bau des umstrittenen Staudamms Ilisu am Tigris in Südostanatolien eine Exportrisikogarantie (ERG) des Bundes im Umfang von 470 Millionen Franken beantragt. Vor einem Jahr gewährte der Bundesrat den Firmen, die mit dem Auftrag 1230 Personenjahre Arbeit in die Schweiz holen, die Absicherung des Zahlungsrisikos. Allerdings - und das ist neu - unter der Bedingung, dass eine unabhängige Instanz die versprochene Milderung der negativen Folgen des Baus überwacht.

Andere Staaten halten sich zurück Ilisu sollte ab 2006 rund 3800 Gigawattstunden Strom liefen. Baubeginn hätte im letzten Frühjahr sein sollen. Doch nicht einmal die Verträge sind bis heute unterzeichnet. Es habe in der Türkei Verzögerungen gegeben, sagt Sulzer-Sprecher Hans-Caspar Ryser, aber das sei bei Grossprojekten nicht ungewöhnlich. Die Verhandlungen seien nicht unterbrochen, das Projekt nicht prinzipiell in Frage gestellt. Allenfalls bestehe im Frühling 2000 mehr Klarheit. So ruht derweil auch die Finanzierung, wie die damit betraute UBS bestätigt. Peter Bosshard von der Entwicklungsorganisation Erklärung von Bern (EvB) vermutet mehrere Gründe: die schlechtere Wirtschaftslage der Türkei, die Verschiebung der Prioritäten nach den Erdbeben, der Widerstand der kritischen Organisationen sowie der Umstand, dass alle anderen angefragten Länder noch nicht über eine ERG entschieden haben, insbesondere so wichtige wie Deutschland und die USA. Etliche Staaten hätten gemerkt, dass Ilisu entwicklungspolitische Grundsätze verletze und die Spannungen mit Syrien und dem Irak erhöhe, sagt Bosshard. "Die Schweiz ist vorschnell in die Bresche gesprungen."

Die EvB hatte vor dem Entscheid des Bundesrates scharf gegen eine ERG protestiert. 52 Dörfer und 15 Kleinstädte würden im 313 Quadratkilometer grossen Stausee untergehen, so auch Hasankeyf, eine archäologisch wertvolle, denkmalgeschützte Stadt aus dem Mittelalter. Bis zu 20 000 Menschen müssten umgesiedelt werden. Man befürchtet, dass Umgesiedelte nicht wirklich Arbeit, Wohnungen und Entschädigungen erhalten, dass der See wegen ungenügender Abwasserklärung zur Kloake wird und dass die Türkei dem Irak zeitweilig das Wasser abdrehen kann.

Die Türkei hatte vor dem ERG-Entscheid zugesichert, die Umsiedlungen geschähen nach internationalen Standards, die Vorschläge des Umweltberichts würden beachtet. Für den Kulturgüterschutz seien Mittel zugesichert. Das Machtpotenzial gegen den Irak werde nicht eingesetzt. Der Bundesrat verliess sich darauf, wohl wissend, dass er nicht direkt auf die Türkei einwirken kann. Partner bei der ERG ist nicht die Türkei, sondern sind die antragstellenden Firmen. Der Bundesrat verlangte aber erstmals ein unabhängiges Monitoring. Es soll dafür sorgen, dass die Firmen ein Interesse an der Einhaltung der Zusagen durch die Türkei haben. Damit betrat der Bundesrat Neuland und erntete, bei aller Kritik, Lob von der EvB.

Novum mit unklaren Konturen Wer das Monitoring einrichtet, war lange ungewiss. Inzwischen ist klar, dass nicht die Unternehmen, sondern der Bund dies tut. "Wenn wir schon die Bedingung stellen, erteilen wir auch den Auftrag und helfen mit, die Experten zu bestimmen", sagt Kurt Schärer vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Geschehen ist dies allerdings noch nicht. Es besteht erst die Zusicherung der Türkei für die Bauphase und das Anforderungsprofil des Bundes: Es müssen ungebundene, erfahrene Fachleute sein, die die internationalen Standards und die Industriepraxis kennen.

Auch inhaltlich ist kaum etwas klar. Die EvB versuchte beim Seco und bei Sulzer auszuloten, welche internationalen Standards gelten sollen. Ein Treffen mit dem Seco vor zwei Wochen brachte laut Bosshard keine Klarheit, ein Brief an Sulzer Mitte Oktober blieb unbeantwortet. Sulzer-Sprecher Ryser sagt, das Monitoring sei eingefädelt, Hearings dazu seien angelaufen, aber umgesetzt werde es erst, wenn die Verträge unterzeichnet seien.

Völlig offen ist, was geschieht, wenn das Monitoring zeigt, dass die Türkei ihre Versprechen nicht hält. Für Bosshard ist klar: "Der Bundesrat muss seine Exportrisikogarantie künden können." Nur so könne er seine Verantwortung wahrnehmen und über die Firmen Druck ausüben. Allerdings sagt Schärer vom Seco: "Es gibt keinen Weg, die ERG zu stoppen, wenn etwas schief läuft." Die Schweiz würde aber ihre Lehren für später ziehen. "Die Erfahrung mit Ilisu wird wegleitend sein für künftige ERG-Entscheide." Bei der Türkei sei das Bewusstsein gewachsen, dass soziale, ökologische und politische Aspekte wichtig sind, wenn via ERG staatliche Unterstützung gesucht wird.

Damit gibt sich die EvB nicht zufrieden. Bosshard verlangt, dass der Bundesrat den ERG-Entscheid überdenkt. Nicht nur weil es mit dem Monitoring harze und die Zweifel an einer substanziellen Abfederung blieben. Nach den Erdbeben müsse die seismische Lage in Südostanatolien abgeklärt werden. Ilisu ist für Beben bis Stärke 6 ausgelegt, das grosse Beben Mitte August in Ismit erreichte 7,5. Zudem hätten sich völkerrechtlichen Einwände akzentuiert, sagt Bosshard. Syrien und die Arabische Liga hätten inzwischen den Schweizer Behörden detailliert unterbreitet, wie das Projekt internationale und bilaterale Verträge verletze. Die EvB will die völkerrechtlichen Fragen unabhängig überprüfen lassen. Ein Rückkommen auf den ERG-Entscheid sei rechtlich möglich, sagt Bosshard. Die Zusage gelte nur sechs Monate. Sulzer und ABB hätten also längst keinen Rechtsanspruch mehr. "Es gibt keinen Grund, auf dem früheren Beschluss zu beharren und die neuen Fakten nicht zu prüfen", sagt Bosshard.