Berliner Zeitung, 4.12.99

Kanzler für EU-Perspektive der Türkei

Ablehnung der Union

Sigrid Averesch BERLIN, 3. Dezember.

Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, der Türkei auf dem bevorstehenden EU-Gipfel in Helsinki den Status eines Beitrittskandidaten zur Europäischen Union zu verleihen. Man könne nicht die strategische Bedeutung der Türkei für Europa betonen, ihr aber eine klare europäische Perspektive verweigern, sagte Schröder am Freitag in einer Regierungserklärung im Bundestag. "Wir wollen eine europäische Türkei, deshalb wollen wir der Türkei auch eine glaubhafte europäische Perspektive eröffnen", betonte er.

Der Kanzler verwies darauf, dass die Beitrittsperspektive "kein Blankoscheck" für Ankara sei. Vielmehr erwarte Deutschland, dass die Türkei die Menschenrechte einhalte, Minderheiten achte sowie eine rechtsstaatliche Ordnung herstelle. Erst wenn dies erfüllt sei, stelle sich die Frage eines Beitritts.

Grenzen bis an den Nahen Osten

Die CDU sprach sich gegen diese Haltung aus. Im Gegensatz zu früheren Stellungnahmen führt sie nicht mehr das christliche Menschenbild als Argument gegen eine Beitrittsperspektive des moslemisch geprägten Staates an. Die Union sieht vielmehr die Gefahr einer gegenseitigen Überforderung. Vor eine EU-Aufnahme ist ihrer Auffassung nach eine demokratische Verfassung in der Türkei, eine Reform der Rolle des Militärs und eine andere Kurdenpolitik nötig. Die CDU spricht sich für eine Annäherungsstrategie aus. So soll die EU die Türkei bei der Anpassung der Innen- und Rechtspolitik an europäische Standards sowie bei einer Verfassungsreform unterstützen.

Unklar bleibt, ob die CDU auch bei innertürkischen Reformen für eine EU-Aufnahme plädieren würde; denn sie fordert eine Grundsatzdebatte über das Selbstverständnis der EU, und darüber, ob deren Grenzen bis an den Nahen Osten reichen sollten. Zudem gibt es Befürchtungen in der Union, dass die EU die Aufnahme der Türkei, deren Bevölkerung in 20 Jahren vormutlich auf über 80 Millionen Einwohner wachsen wird, nicht verkraftet.