taz Nr. 6008 vom 4.12.1999 Seite 37

"Armut ist eine Krankheit"

Kongress "Armut und Gesundheit" fordert Fonds für medizinische Betreuung illegaler Flüchtlinge

In der Bundesrepublik leben eine Millionen Kinder in Armut. Sie sind dreimal so häufig fehlernährt und krank und werden - statistisch gesehen - sieben Jahre früher sterben als ihre sozial besser gestellten AltersgenossInnen. Als arm gelten hierbei Familien, die weniger als die Hälfte des bundesdeutschen Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben.

Auf diese Zahlen verwies der Arzt Johannes Spatz vom Verein "Gesundheit Berlin" im Vorfeld des bundesweiten Kongesses "Armut und Gesundheit", der an diesem Wochenende in der Technischen Universität Berlin (TU) stattfindet.

600 Fachleute aus Medizin und Sozialarbeit aus dem gesamten Bundesgebiet treffen sich zum fünften Mal, um über den Zusammenhang von sozialer Lage und Gesundheitszustand der Bevölkerung zu debattieren. Neben in Armut lebenden Kindern und Jugendlichen stehen dabei Wohnungslose, Frauen, MigrantInnen und Alte im Mittelpunkt der Diskussion.

Dass es einen Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit gibt, sei längst nachgewiesen, sagt Spatz. "Armut ist eine Krankheit, aber die Politik will das nicht sehen." Um das zu verändern, haben die Kongressveranstalter - neben "Gesundheit Berlin" unter anderem die Berliner Ärztekammer, der DGB und der Paritätische Wohlfahrtsverband (DPW) - erstmals verantwortliche PolitikerInnen zur Diskussion geladen. Mit Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer (Bündnis 90/Grüne), der ehemaligen brandenburgischen Sozialministerin Regine Hildebrandt (SPD) und Kreuzbergs Sozialstadträtin Ingeborg Junge-Reyer (SPD), die für die neue Landesregierung als Staatssekretärin für Gesundheit und Soziales gehandelt wird, sollen auf der Tagung "unkonventionelle Wege zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung sozialer Randgruppen" diskutiert werden.

Drei Forderungen des Kongresses stehen bereits fest: Erstens sollen niedrigschwellige Versorgungsangebote für Obdachlose - wie Arztambulanzen an Bahnhöfen - vom Staat subventioniert werden. Ärztekammer und Kassenärztliche Vereinigung (KV) sollen auf ihre Mitglieder einwirken, Obdachlose in ihren Praxen als Patienten und nicht als Störfaktoren zu begreifen. "Etwa 80 bis 90 Prozent der Wohnungslosen bedürfen dringend einer ärztlichen Behandlung", so Spatz.

Zweitens soll ein Notfonds eingerichtet werden, aus dem schnell und unbürokratisch medizinische Hilfe für illegale Flüchtlinge finanziert werden kann. Einzahlen sollen Bundesregierung, Krankenkassen und Wirtschaft. Nach Schätzungen des DPW leben etwa 500.000 Flüchtlinge ohne legalen Aufenthaltsstatus in der Bundesrepublik. Aus Angst vor Abschiebung suchen sie nur dann einen Arzt auf, wenn es sich nicht mehr umgehen lässt. Drittens soll der öffentliche Gesundheitsdienst seine Mittelschichtorientierung aufgeben. Spatz: "Hauptaufgabe muss sein, Menschen in Not zu helfen."

Sabine am Orde