Heilbronner Stimme, 4.12.99

Wenn plötzlich die Freunde fehlen

Von Yvonne Tscherwitschke

Lehrer und Mitschüler entsetzt: Kurdische Familie aus Waldbach wurde nach Istanbul abgeschoben

Freitag vormittag. Ilhan und Aydin erscheinen nicht in der Schule. Unentschuldigt. Ihr Klassenlehrer, Bernhard Wirsig, forscht nach. Und schon bald bestätigt sich am Bildungszentrum Bretzfeld das, was zunächst nur ein Gerücht war: die Familie ist abgeschoben worden.

Bernhard Wirsig (40) ist entsetzt. "Niemand wusste etwas." Seit zweieinhalb Jahren unterrichtet er die beiden kurdischen Brüder Ilhan (17) und Aydin (15). Sie besuchten die 9. Klasse der Hauptschule am Bildungszentrum Bretzfeld. Im Juni 2000 wollten sie ihren Abschluss machen und eine Lehre im Kfz-Bereich beginnen.

Auch ihre 13-jährige Schwester Semigül war am Bildungszentrum. Sie ging in die siebte Klasse. Zur Familie, deren Oberhaupt in einer Metallwarenfabrik arbeitete, gehören noch ein erwachsener Sohn und ein dreijähriges Kleinkind, das in den Waldbacher Kindergarten ging. Auch dort wusste niemand Bescheid.

Denn: Abschiebungen werden nicht angemeldet. Am Morgen des 26. November klingelten Polizeibeamte an der Wohnung der sechsköpfigen kurdischen Familie Simseksoy in Waldbach und forderten sie auf, ihre Sachen zu packen. Vom Flughafen Stuttgart ging es nach Istanbul, wie Ralph König, Pressesprecher der Bezirksstelle für Asyl beim Regierungspräsidium Stuttgart, mitteilt. Auch die Gemeindeverwaltung wurde erst Tage später über den Vollzug informiert, berichtet Gerd Dieterle, Leiter des Bretzfelder Ordnungsamtes.

Im April 1992 kamen Müslüm und Fathma Simseksoy mit ihren vier Kindern nach Deutschland, ein fünftes Kind wurde hier geboren. Der älteste Sohn ist 19 Jahre alt und mit einer Deutschen verheiratet. Deshalb durfte er bleiben.

Die Familie, so Ralph König, stellte im April 1992 in Köln und im Mai 1993 in Göppingen einen Asylantrag. Im Januar 1994 erhielten sie den Ablehnungsbescheid. Da ihre Klage vom Verwaltungsgericht abgewiesen wurde, ist der Ablehnungsbescheid seit Dezember 1995 rechtskräftig. Die Familie galt seither als geduldet. Im November 1998 kam die erste Abschiebungsandrohung. Der daraufhin gestellte Asylfolgeantrag wurde ebenfalls abgelehnt. Darin steht, so Ralph König, dass die Familie zur Ausreise verpflichtet ist.

Bis zum 31. Oktober 1999 kamen 1462 Menschen in Baden-Württemberg dieser Aufforderung nicht nach. Sie alle, abgelehnte Asylbewerber wie Bürgerkriegsflüchtlinge, wurden wie die Familie Simseksoy abgeschoben.

Die große Welle der Abschiebungen ist vorbei. Es gab Zeiten, erinnert sich Ralph König, da hatte er die aktuelle Abschiebestatistik täglich neben dem Telefon liegen.

Das bestätigt auch Gerd Dieterle. Außer der Familie Simseksoy wurden in diesem Jahr nur noch ein Algerier und ein Jugoslawe aus der Großgemeinde Bretzfeld abgeschoben. Ob diese beiden Einzelpersonen so integriert waren wie die Familie Simseksoy, die in einer eigenen Wohnung lebte und über eigenes Einkommen verfügte? Bernard Wirsig jedenfalls erinnert sich, wie der Vater, der in einer Metallwarenfabrik arbeitete, bereits vor zwei Jahren große Angst vor der Abschiebung hatte. "Ich kann mich noch gut erinnern, wie er von der Angst vor Folter und Tod sprach", berichtet Bernhard Wirsig. Und Wirsig spricht auch davon, wie die Mitschüler und deren Eltern nun nachfragen. Nicht nur die Schüler sind betroffen. Auch Bernhard Wirsig. Seine Neuner seien eine recht schwierige Klasse, berichtet er, deshalb habe er viel mit der Klasse gemacht, die er 13 Stunden in der Woche unterrichtet. "Und wenn dann nach zweieinhalb Jahren zwei Buben fehlen - da war es mir zum Heulen."