Kölner Stadtanzeiger, 4.12.99

Das Militär der Türkei steht im Wege

Die dominierende Rolle der Generäle passt nicht in die EU

Von Gerd Höhler

Zwei Wochen vor dem EU-Gipfel im finnischen Helsinki, auf dem die Weichen für eine Annäherung der Türkei an Europa gestellt werden sollen, melden sich die Streitkräfte zu Wort. Die Generäle pochen auf ihre Rolle als Oberaufseher des Landes. Die türkischen Militärs befinden sich in einem Dilemma: einerseits sind sie traditionell westorientiert; andererseits ist es die dominierende Rolle der Armee, die den europäischen Ambitionen des Landes im Wege steht.

Die Militärs befürworten den angestrebten EU-Beitritt der Türkei, so eine Erklärung des Generalstabs, als "eines der wichtigsten außenpolitischen Ziele des Landes". Schon das ist entlarvend. In welchem anderen europäischen Land könnte es sich die Generalität anmaßen, außenpolitische Erklärungen abzugeben? In der Türkei gilt das als völlig normal. Und daran soll sich nichts ändern. Eine jetzt der Presse zugespielte, eigentlich nur für den Dienstgebrauch bestimmte Broschüre mit dem Titel "Aktuelle Themen" stellt klar, dass die Militärs auch in einer der EU angenäherten Türkei nicht auf ihre aktive Teilnahme in der Politik zu verzichten gedenken. Die "besonderen Verhältnisse" in der Türkei, so die Schrift, rechtfertigten die herausgehobene Rolle der Militärs. Die gegenwärtig von verschiedenen Politikern in Ankara angestellten Überlegungen, eine Reihe von bisher beim Generalstab liegenden Kompetenzen auf das Verteidigungsministerium zu übertragen, stoßen bei den Generälen auf entschiedenen Widerspruch. Solche Pläne, so die Broschüre, zielten auf eine "Schwächung der Streitkräfte" ab.

Neben den Menschenrechtsdefiziten, der Minderheitenpolitik und den wirtschaftlichen Strukturproblemen steht vor allem die dominierende Rolle der Militärs bisher einer Annäherung an die EU entgegen. Die Streitkräfte, so entspricht es europäischem Staatsverständnis, müssen der Kontrolle der Zivilpolitiker unterstehen. In der Türkei aber ist es umgekehrt. Die Militärs sehen sich als die Wächter der Republik, als eine über allen Institutionen stehende, höchste Instanz. Einer aus ihren Reihen, der General Mustafa Kemal, begründete vor 76 Jahren die moderne Türkei und wird seither als Atatürk, als "Vater der Türken", von der Nation verherrlicht. Die Militärs betrachten sich als seine Erben. Unter Berufung auf Atatürks Vermächtnis putschten sie seit 1960 drei Mal. Dabei hatte gerade der Staatsgründer seinen Generälen immer wieder eingeschärft, dass aktive Offiziere nichts in der Politik verloren haben.

Alarmiert reagieren die Uniformierten nun vor allem auf die Vorschläge der islamistischen Tugend-Partei. Sie möchte im Rahmen einer Verfassungsreform den Nationalen Sicherheitsrat (MGK) neu organisieren. Dort, nicht im Kabinett oder im Parlament, fallen die eigentlichen politischen Entscheidungen. Das paritätisch von den jeweils fünf ranghöchsten Militärs und den führenden Zivilpolitikern besetzte Gremium wird in der Praxis von den Generälen dominiert. Es gibt laut Verfassung zwar nur "Empfehlungen" ab, die von der Regierung "mit Vorrang" zu behandeln sind. Doch bisher hat es nur eine Regierung gewagt, sich dem MGK zu widersetzen, die des islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan. Er ignorierte die "Empfehlung" der Militärs, den Umtrieben fundamentalistischer Zirkel ein Ende zu machen und wurde wenig später von den Generälen aus dem Amt gehebelt. Der Reformvorschlag der Islamisten sieht vor, dass künftig im Sicherheitsrat nur noch ein Uniformierter sitzen soll, der Generalstabschef. Das lehnen die Militärs entschieden ab. Solche Ideen, heißt es in der Broschüre, "ignorieren entweder die Geschichte oder, schlimmer noch, stellen einen Angriff auf die türkischen Streitkräfte dar".