fr, 4.12.99

Brückenbau nach Europa

Ankara sieht im Fall Öcalan keinen Grund mehr zur Eile und spielt auf Zeit

Von Gerd Höhler (Athen)

"Aufhängen, aufhängen", skandierten die Demonstranten, als vor einer Woche der türkische Kassationshof in Ankara das Todesurteil gegen den PKK-Chef Abdullah Öcalan bestätigte. Aber dass es zur Vollstreckung des Urteils kommt, wird immer unwahrscheinlicher.

"Überflüssig" findet Ilnur Cevik, Herausgeber der in Ankara erscheinenden Turkish Daily News, die jetzt geführte Debatte um das Schicksal Öcalans; längst sei beschlossen, den PKK-Chef gar nicht hinzurichten. Darauf deuten tatsächlich jüngste Äußerungen türkischer Regierungspolitiker hin. Schon unmittelbar nach dem Urteilsspruch Ende Juni verwies Staatspräsident Süleyman Demirel nicht zufällig darauf, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte könne "das Verfahren stoppen". Mit der jetzt an Ankara ergangenen Aufforderung, die Vollstreckung des Urteils auszusetzen, bis das von Öcalan angerufene europäische Gericht seine Entscheidung gefällt habe, bauten die Straßburger Richter den türkischen Politikern eine goldene Brücke. Inzwischen hat Ministerpräsident Bülent Ecevit, selbst ein erklärter Gegner der Todesstrafe, offenbar auch seine Koalitionspartner davon überzeugt, dass eine Hinrichtung Öcalans politisch nicht opportun ist. Zwar gibt es in der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) viele, die lautstark die sofortige Vollstreckung des Todesurteils fordern. Den Wahlkampf im Frühjahr bestritt die MHP schließlich mit der Forderung, "die Bestie" Öcalan müsse hängen. Nicht zuletzt diesen Sprüchen verdankten die Rechtsradikalen ihren Aufstieg zur zweitstärksten Partei und die Regierungsbeteiligung. Doch die Parteiführung sei inzwischen von der Forderung, Öcalan hinzurichten, abgerückt, berichtete die liberale Tageszeitung Radikal. Das zeigen auch Äußerungen des führenden MHP-Politikers Ismail Köse. Es gelte, den Fall Öcalan "mit Gelassenheit und Intelligenz zu behandeln", meinte der Abgeordnete.

"Keinen Grund zur Eile" sieht auch Justizminister Hikmet Sami Türk und erläuterte vor der Presse das langwierige parlamentarische Verfahren, das abzuwickeln ist, bevor es zu einer Exekution des PKK-Führers käme. Damit schien der Minister anzudeuten, dass die Prozedur verschleppt werden könnte. Auch der für Menschenrechtsfragen zuständige Staatsminister Mehmet Ali Irtemcelik hält nichts von einer Vollstreckung: Die Türkei habe "eine glänzende Zukunft vor sich", man dürfe nicht zulassen, "dass Öcalan ihr im Wege steht", mahnte der Minister unter Anspielung auf die EU-Beitrittsambitionen seines Landes.

Den Eindruck, dass er sich dem Druck der Europäer beuge, will Premier Ecevit allerdings bei seinen nationalstolzen Landsleuten auf keinen Fall entstehen lassen. Aus innenpolitischem Kalkül wird die Regierung keine klare Entscheidung gegen eine Hinrichtung Öcalans treffen. Das Verfahren wird vielmehr in der Schwebe bleiben, wie über 50 andere Todesurteile, die teils schon vor mehr als zehn Jahren verhängt, aber nie vollstreckt wurden. In zwei, drei Jahren, so kalkuliert Ecevit wohl, werden sich die Wogen geglättet haben. Dann könnte man die Todesstrafe einfach abschaffen. Damit wäre dann auch der Fall Öcalan erledigt.