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Türkei: Die Vision des Recep Tayyip Erdogan

Aufbruch im Anzug

Warum der frühere Bürgermeister von Istanbul trotz eines Politikverbotes von den Mächtigen gefürchtet, bei den Armen jedoch gefeiert wird

Von Wolfgang Koydl

Istanbul, Anfang Dezember - Natürlich wollen sie ihn alle gekannt haben, von Kindesbeinen an. Varol, zum Beispiel. Er hat ihm das Kicken beigebracht, "da wusste er gar nicht, wie ein Fußball aussieht". Oder Nurettin Yurdakul. In seinem Krämerladen, wo noch immer das Hirschgeweih auf die Linsensäcke herunterblickt, hat er sich knallrote Horoz-Lutscher gekauft; und Bakirci Ali Abi, der mit dem grauen Lockenbart, den dicken Brillengläsern und den Apfelbäckchen aussieht wie einer von Schneewittchens Zwergen, stellt sich als gleichsam älterer Bruder vor: "Er konnte noch nicht laufen, da habe ich auf ihn aufgepasst." Stolz sind sie auf ihn, die Leute im Viertel, und sie haben allen Grund dazu. Denn es ist keine Selbstverständlichkeit, dass es einer zu etwas bringt, der in Kasimpasa aufgewachsen ist. Von allen Vierteln Istanbuls hat Kasimpasa, das vom ehedem europäisch modernen Pera heruntersteigt zu den übel riechenden Wassern des Goldenen Horns, den wohl schlechtesten Ruf. Hier soll es Zigeunerbanden geben, hier sollen noch immer Ganoven mit Rasiermessern die Gassen unsicher machen. Alles ist denkbar in Kasimpasa, nur nicht, dass einer von hier Bürgermeister der Stadt werden könnte.

Komisch bis peinlich

Aber Recep Tayyip Erdogan hat diesen Traum erfüllt - sich selbst und anderen. Ausgerechnet er, der Sohn armer Zuwanderer aus Rize am Schwarzen Meer schaffte den Sprung ins Rathaus der Millionenmetropole und weiter auf die nationale politische Bühne. Heute gilt er vielen als größte politische Hoffnung der Türkei - und dies, obwohl seine Karriere eigentlich beendet sein sollte: Der 44-Jährige hat Politikverbot bis ans Ende seiner Tage.

Fünf Jahre lang verwaltete Erdogan Istanbul und legte damit den Grundstein seines Ruhms. Er machte seine Sache besser als viele Vorgänger: Der Müll wurde erstmals regelmäßig abgeholt, Busse fuhren pünktlich, die Wasserversorgung klappte wieder, und überall in der staubigen Stadt entstanden Parks, Grünanlagen und Spielplätze. Voller Missgunst und Sorge verfolgte das politische Establishment der Türkei die Erfolge des Kommunalpolitikers. Denn Erdogan war nicht nur erfolgreich und populär, er war auch Mitglied der islamistischen politischen Bewegung. Diese Mischung war dem Staat zu gefährlich. Ende vergangenen Jahres wurde Erdogan unter einem Vorwand entmachtet und eingesperrt. Ihm hat es nicht geschadet: Aus jeder Umfrage würde er als der glaubwürdigste Politiker der ganzen Türkei hervorgehen.

Vor fünf Jahren hätte niemand so eine Entwicklung vorhersehen können. Damals, im März 1994, war Erdogan ein völlig unbekannter Mann, dessen Wahl zum Oberbürgermeister wohl auch ihn selbst überraschte. Viele Istanbulis wollten es nicht wahrhaben, denn alles an Erdogan erschien entweder bedrohlich oder zumindest komisch bis peinlich - jedenfalls in den Augen des Großbürgertums der Bosporus-Metropole: Sein dünnes, nach Islamistenart getrimmtes Menjou-Bärtchen, seine schlechtsitzenden Anzüge in bräunlich-gelben Farben, und obendrein eine Ehefrau, die sich erdreistete, ein Kopftuch zu tragen.

Doch der Bourgeoisie schuldete Erdogan nichts. Er verdankte seinen Sieg den Stimmen aus den Gecekondus, den Slums und Kleine-Leute-Vierteln, die sich wie konzentrische Ringe um Istanbul legen. Gleichwohl erhielt er nur 20 Prozent der Stimmen. Ihm kam zugute, dass die Gegenkandidaten einander die Stimmen raubten. Sie waren - anders als er - alle prominente Persönlichkeiten voller Siegesgewissheit; noch nie war ihnen einer aus dem Volk gefährlich geworden.

Umso drastischer fielen die Szenarios aus, die über die künftige islamistische Verwaltung gezeichnet wurden: Alkoholverbot in den Kneipen, getrennte Busse für Männer und Frauen, Moscheen allerorten, und die Schließung der Bordelle. Es war Panikmache, nichts davon machte Erdogan wahr - wobei unklar blieb, ob der neue Bürgermeister aus Überzeugung einen moderaten Kurs fuhr, oder aus Opportunismus und Furcht vor einer Gegenreaktion der Istanbulis.

Denn Erdogan, der aus einer streng religiösen Familie stammt, schon als junger Mann brav zur Moschee ging und die rigorose Schule der Polit-Frömmler in der Islamistenpartei absolvierte, hatte recht eigenwillige, islamisch-konservative Vorstellungen. "Damals wollte er nicht mal meiner Frau die Hand schütteln", erinnert sich der Istanbuler Industrielle Cüneyd Zapsu, der Erdogan berät. "Heute umarmt er sogar meine halbwüchsigen Töchter, wenn er zu Besuch kommt." Tatsächlich zeigt er inzwischen nicht nur in der Wahl seiner Anzüge besseren Geschmack. Auch einige religiöse Denkschwellen hat er überwunden. Das beginnt mit dem Begriff des "politischen Islam", der ihm überhaupt nicht gefällt. "Der Islam ist eine persönliche Angelegenheit", ist seine Standardantwort, "Politik hingegen bedeutet, dass man Dinge im Sinne der Wähler erledigen muss." Niemals dürfe man den Islam einem anderen aufzwingen: "Damit würde man sich an der Religion versündigen." Es sind weniger islamistische Vorurteile, die sein Handeln bestimmen; er tut sich vielmehr schwer, die Herkunft aus dem Armenviertel abzuschütteln. Erdogan ist der erste Spitzenpolitiker in der 76-jährigen Geschichte der türkischen Republik, der aus einfachen Verhältnissen stammt.

Sein erster Job war bei den städtischen Verkehrsbetrieben. Er hat auch nicht, wie Jungs aus gutem Hause, zum 14. Geburtstag eine Jahreskarte für Galatasaray geschenkt bekommen, sondern als Rechtsaußen mit Busfahrern und Schaffnern in der Bezirksliga gestürmt.

Kampf im Haifischbecken

Kasimpasa ist wirklich weit, weit unten, und dies ist sogar wörtlich zu verstehen. Das Viertel liegt in einer Senke, und wenn man etwa auf dem Fußballplatz von Kasimpasaspor steht, muss man den Kopf schon sehr weit in den Nacken legen, um weit oben in Beyoglu einen Blick auf die eleganten Fünf-Sterne-Hotels und die neuen, noblen Bürohochhäuser zu erhaschen. Früher lebte unten in Kasimpasa das Personal für die feinen Herrschaften oben in Beyoglu. Es war ein anrüchiges Proletenviertel, und noch heute befiehlt die Istanbuler Society ihren Chauffeuren, Gas zu geben, wenn man wirklich einmal durch den Stadtteil fahren muss.

Es hat lange gedauert, bis Erdogan die Anerkennung durch das Establishment erfahren hat. Unlängst aber hatte er ein Treffen mit Vertretern des Industriellenverbandes TÜSIAD, das im schicken Vorort Yeniköy stattfand. Die Unternehmer wollten sich den Mann angucken, der vielleicht einmal die Geschicke des Landes bestimmen wird. Ein lebenslängliches Politikverbot muss ja nicht wirklich lebenslänglich gelten. "Die haben mich vorher nie eingeladen, dieses Treffen war ein Meilenstein", sagt Erdogan, aber er sagt es zögerlich, als ob er sich noch immer nicht sicher sei, dass diese Anerkennung von Dauer sein wird.

Ungelenk, fast schüchtern, wirkt er noch immer, seine Augen sind eigentlich viel zu offen für jemanden, der im Haifischbecken türkischer Politik überleben will. Aber vielleicht fühlt er sich auch nur unwohl zwischen all dem Marmor und Kristall im Salon einer jener luxuriösen Bosporus-Villen, in die ihn einer seiner wohlhabenden Freunde heute eingeladen hat und die sehr weit von Kasimpasa entfernt ist.

Hier oben am Bosporus säumen Villen und sogenannte "Sites" die Meerenge - Luxusghettos der Reichen; traditionelle Mahalles gibt es hier kaum. Dabei ist die Mahalle, das Stadtviertel, nach der Familie die Keimzelle der türkischen Gesellschaft: Ein Dorf in der Stadt, in dem man sich geborgen oder gefangen fühlen kann, je nachdem. Die Mahalle ist aber auch ein Mikrokosmos der Türkei. Hier leben alle Tür an Tür, welche die wirtschaftliche Not in die Stadt gespült hat: Sunniten und Aleviten, Lasen und Tscherkessen, Kurden und Araber. Recep Tayyip Erdogan bezieht Kraft aus seinem Viertel. Hierher kommt er immer wieder zurück, hier trinkt er Tee mit den alten Freunden, von denen er auf dem Weg nach oben keinen vergessen hat. "Er denkt an alle", erzählt Nurettin Yurdakul, der Gemischtwarenhändler. "Stellen Sie sich vor, mir hat er aus dem Gefängnis eine Glückwunschkarte zum Bayram, zum Opferfest, geschickt." Das Gefängnis. Vier Monate hat er Anfang des Jahres gesessen, zu sechs war er verurteilt worden - wegen Volksverhetzung. Sein Vergehen: Er hatte ein Gedicht von Ziya Gökalp zitiert, dem Vater der Ideologie des türkischen Nationalismus, der in jedem Schulbuch lobend erwähnt wird. "Unsere Minarette sind Bajonette, die Kuppeln der Moscheen unsere Helme, die Moscheen unsere Kasernen, und die Gläubigen unsere Soldaten" - so die Strophe, die ihm zum Verhängnis wurde. Freilich ist Erdogan klug genug, um gewusst zu haben, dass diese Worte aus seinem Munde nicht harmlos klingen würden. "Ich habe meine Schuld gebüßt", gibt er freimütig zu.

Doch damit meint er nur die Haftstrafe und nicht das damit verbundene Politikverbot, das seiner Karriere ein Ende bereiten sollte. Der Bann wurde verhängt, weil Erdogans Gedichtlesung als Staatsverbrechen gewertet wurde. Dies bedeutet, dass der prominenteste Oppositionspolitiker des Landes nicht wählen, nicht kandidieren, keiner Partei mehr angehören, keine politische Organisation gründen oder sie gar führen darf.

Einen "eklatanten Verstoß gegen die Menschenrechte", erkennt Erdogan darin. Schlimmer noch: Damit werde "das Volk bestraft, weil man ihm vorschreibt, wen es wählen darf und wen nicht". Nur der Wähler dürfe Politikverbote aussprechen - mit seiner Stimme an der Wahlurne. Juristisch ist der Spruch des Staatssicherheitsgerichtes in Diyarbakir ohnehin unhaltbar. Es war ein Fall politischer Justiz, hatte doch sogar der Staatsanwalt auf Freispruch plädiert.

Politisch hat Erdogan die Haft nicht geschadet, sie hat ihn noch mehr zum Robin Hood gemacht. Die Zeit im Gefängnis scheint aber auch die Klammer gelockert zu haben, die ihn bislang an die Islamisten gefesselt hatte. Das haben auch die Wähler erkannt - und sie sehen das durchaus als wünschenswert an.

Viele haben sowieso nur ihm persönlich ihre Stimme gegeben, und die Islamistenpartei widerwillig akzeptiert. "Tayyip, das ist ein aydin müslüman", formuliert es Hasan Göksoy, der im Schatten der Moschee von Kasimpasa eine Teestube betreibt, ein "aufgeklärter Muslim". Die Bezeichnung ist insofern pikant, als in der Regel religionsfeindliche Anhänger des Staatsgründers Kemal Atatürk das Adjektiv "aufgeklärt" für sich reklamieren. Tayyip selbst lächelt nachsichtig ob dieser Beschreibung. "Jeder Muslim muss aufgeklärt sein", sagt er, als ob es sich um die größte Selbstverständlichkeit der Welt handele. Ja, es wurden Fehler gemacht, auch von ihm, etwa als man glaubte, die Frauen vom politischen Willenbildungsprozess ausschließen zu können. Inzwischen dürfen Frauen in der Islamistenpartei ein kleines bisschen Karriere machen, und wenn man Erdogan heute über die Ausbeutung der Frau reden hört, dann klingt er fast wie Alice Schwarzer: "Ich werde nie verstehen, warum man Autoreifen angeblich nur verkaufen kann, wenn man in der Werbung eine nackte Frau darüberlegt".

Den Ball nicht abgeben

Auch das ist Erdogan: Vieles, was er sagt, klingt vernünftig und einleuchtend; manches wirkt glatt, unverbindlich, einstudiert. Beispiele für die Toleranz des Islam, für seine guten und gerechten Herrscher, findet er nur in der Vergangenheit, doch die Gegenwart wird leider von afghanischen Taliban, iranischen Mullahs und saudischen Prinzen beherrscht. "Ich würde mich freuen, wenn einmal ein verschleiertes Mädchen und eines in Jeans Hand in Hand auf der Straße spazieren gehen können", überlegt er laut. Allein, das gab es schon in Teheran - vor der Revolution des Ayatollah. Wo bleiben sie also, die neuen gerechten Herrscher des Islam? Erdogan wird plötzlich wortkarg: "Sie werden kommen, inshallah", sagt er leise und verstummt. Wird er dieser Herrscher sein? Oder wird er den politischen Islam ablegen und alleine auf der Welle seines Charismas und seiner Reputation zur Macht gleiten?

Erdogan weiß, dass ihn die Staatsmacht fürchtet, das Establishment verachtet, und die früheren Parteifreunde voller Missgunst sind. Er weiß auch, dass viele Anhänger im Bürgertum nur eines an ihm stört: Die Nähe zu den Islamisten. Ihrer Partei darf Erdogan ja nicht mehr angehören, und es kann durchaus sein, dass er sich als unabhängiger Politiker wohler fühlt. Beim Fußball jedenfalls, seiner Leidenschaft, hat er Schwierigkeiten, sich einzuordnen. "Egal auf welcher Position ich spiele, ich kenne nur eine Methode", meint er. "Wenn ich den Ball habe, dann behalte ich ihn, bis ich ein Tor geschossen habe." In einer Mannschaft werden solche Einzelgänger nicht geschätzt, und das Publikum liebt sie nur solange sie Tore machen.

Vielleicht ist Erdogan daher ganz zufrieden, dass er im Moment nicht spielen darf. Aber er weiß, dass jemand mit seinem Talent sicher aufs Spielfeld zurückkehrt. Sein großes Match hat noch nicht begonnen.