sz, 3.12.99

Europa nicht nur für Christen

CDU und CSU rücken von der Türkeipolitik Helmut Kohls ab

Die CDU/CSU hat sich von einer der umstrittensten außenpolitischen Festlegungen des früheren Bundeskanzlers Helmut Kohl entfernt und wird den Bruch an diesem Freitag während einer Bundestagsdebatte zur Europapolitik deutlich machen. In einem Antrag der Unions-Fraktion zur Europapolitik der Bundesregierung distanzieren sich der neue Parteivorsitzende Wolfgang Schäuble und der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber von der Aussage Kohls, dass die Türkei kein Mitglied der EU werden könne, weil das Land nicht dem christlichen Menschenbild der Union entspreche.

Der Kurswechsel in der Union wurde gemeinsam von den mit Europapolitik beauftragten Abgeordneten Peter Hintze und Horst Seehofer erarbeitet. Er wird präsentiert im Zusammenhang mit einer Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum EU-Gipfel in Helsinki in der kommenden Woche, auf dem über die Aufnahme der Türkei in den Kreis der Beitrittskandidaten entschieden werden könnte. Die Verhandlungen zu diesem Schritt laufen zur Zeit auf Hochtouren.

Kohl hatte im März 1997 gemeinsam mit sechs christdemokratischen Regierungschefs festgestellt, dass die Türkei nicht in die EU aufgenommen werden könne, weil das muslimische Land keinen Platz in der europäischen Zivilisation habe. Die Aussage löste einen Entrüstungssturm in der Türkei auf und führte zu einer dramatischen Verschlechterung der Beziehungen. Deutschland geriet auch durch die USA unter massiven Druck, weil Washington den türkischen Beitrittswunsch aus strategischem Interesse unterstützt.

Die Abkehr der CDU von ihrem früheren Parteichef vollzog sich nun im Stillen und dauerte mehrere Monate. Kohls Postulat von der Unvereinbarkeit der christlichen und muslimischen Kulturen war von den Außenpolitikern der Fraktion nur wenig gutgeheißen worden. Widerspruch in europapolitischen Fragen war aber nicht möglich.

Die neu formulierte Türkeipolitik der Union verzichtet auf die umstrittene Äußerung völlig. Fragen der religiösen Orientierung werden nicht gestellt. Allerdings lehnt die Union die Aufnahme der Türkei in die Riege der Beitrittskandidaten auch weiterhin ab. Diesmal werden als Gründe genannt, dass die Türkei die Kriterien eines Kandidaten nicht erfülle. Dafür seien eine demokratischere Verfassung und Reformen beim Militär notwendig. Verbessern müssten sich die Menschenrechtssituation und die Behandlung der Kurden. Die Union warnt außerdem, dass ein Kandidatenstatus Illusionen schaffe, die zu neuen Enttäuschungen führen könnten. Allerdings wird eine Aufnahme nicht mehr kategorisch ausgeschlossen, wie noch unter Helmut Kohl.

Unterdessen versucht die rot-grüne Bundesregierung, die Türkei an den Kandidatenstatus heranzuführen. Innerhalb der Europäischen Union hält lediglich Griechenland seinen Widerstand gegen das Vorhaben aufrecht und hat einen inneren Zusammenhang zum Cypern-Problem hergestellt. Cypern gehört zu der Gruppe der ersten Aufnahmekandidaten. Allerdings hat sich über die Behandlung der geteilten Insel ein Streit entsponnen. Griechenland will die Aufnahme der Türkei so lange blockieren, bis in der Cypern-Frage eine Lösung erreicht ist. Entscheidende Gespräche dazu beginnen an diesem Freitag auch bei den Vereinten Nationen in New York.

Stefan Kornelius