sz, 2.12.99

Die Türkei blickt in eine dunkle Zukunft

Weil im Land die Energie knapp ist, schaltet Ankara täglich für Stunden den Strom ab - Besserung ist nicht in Sicht

Nationalistische türkische Politiker geraten leicht ins Schwärmen, wenn sie an den Millenniumswechsel denken. Das nächste Jahrhundert, so kann man es seit Monaten landauf, landab hören, würde ein "türkisches Jahrhundert" werden. Doch 30 Tage vor dem Jahreswechsel deutet alles eher darauf hin, dass dieses Jahrhundert in der Türkei recht kalt und dunkel beginnen könnte: Denn zum ersten Mal seit den chaotischen siebziger Jahren müssen die Menschen zwischen Bosporus und Ararat wieder mit Stromsperren leben.

Zwei Stunden am Tag wird in der Hauptstadt Ankara die Elektrizität abgeschaltet, in Istanbul sind es sogar drei Stunden - in zwei Schichten über den Tag verteilt. Ähnlich ist die Lage in anderen Landesteilen. Inzwischen haben Fernsehen und Presse wenigstens Listen mit den jeweiligen Stromsperrzeiten in den einzelnen Stadtvierteln veröffentlicht. Am Montag hatten die Abschaltungen ohne jegliche Vorwarnung begonnen und ein entsprechendes Chaos ausgelöst. In Istanbul brach ohne Ampeln der Verkehr zusammen, verängstigte Geschäftsleute scheuchten ihre Kundschaft aus den stockdunklen Läden ins Freie, in Krankenhäusern mussten überstürzt Operationen abgebrochen werden, und in dem für seine radikal linke Einwohnerschaft bekannten Izmirer Stadtteil Buca nahmen erzürnte Bürger gar mehrere Mitarbeiter der staatlichen Elektrizitätswerke als Geiseln: Freiheit gegen Kilowatt.

Seit Jahren ist bekannt, dass die Türkei mit ihrer explodierenden Bevölkerungsrate zu wenig Energie hat; doch Abhilfe wurde bisher kaum geschaffen. Hinzu kommt, dass das Land fast ausschließlich von Russland als Erdgaslieferanten abhängig ist: Acht Milliarden Kubikmeter pro Jahr kommen vom Nachbarn im Norden; der zweitgrößte Lieferant, Algerien, verschifft jedes Jahr lediglich zwei Milliarden Kubikmeter verflüssigtes Erdgas in die Türkei.

Nun hat der ungewöhnlich kalte Wintereinbruch in Russland und der Ukraine die Lage plötzlich dramatisch verschärft. Weil die Ukraine und Moldawien, durch deren Territorium die russische Pipeline verläuft, mehr Gas für sich abzweigten, als ihnen zustand, sank in der Türkei der Gasdruck. Die Folge: Die Gaskraftwerke, die ein Drittel der Elektrizität in der Türkei produzieren, können nicht ausreichend versorgt werden.

Die Türkei wäre nicht die Türkei, wenn es nicht zahllose Verschwörungstheorien über den vermeintlich wahren Grund der Krise gäbe. Ex-Regierungschef Mesut Yilmaz munkelte in dunklen Andeutungen von einem schmutzigen "Spiel einiger Firmen". Er selbst befürwortet vehement den Bau einer neuen Gas-Pipeline, die von Russland unter dem Schwarzen Meer hindurch direkt in die Türkei verlaufen soll. Allerdings würde dieses "Blue Stream"-Projekt die Energieabhängigkeit von Moskau nur noch verstärken.

Wie lange die Türken mit den Stromsperren leben müssen, ist nicht ganz klar. Die Menschen stellen sich jedoch realistisch darauf ein, dass der ganze kommende Winter trüb und dunkel sein wird. Energieminister Cumhur Ersümer jedenfalls sprach von einer "schrittweisen" Lösung des Problems, was auf eine längere Zeitspanne hindeutet. Noch weniger tröstlich war eine andere Bemerkung: "Es sieht so aus, dass wir den ganzen Winter auf Messers Schneide durchleben werden", sagte der Minister. "Aber wir werden auf der Hut sein."

Wolfgang Koydl