Mannheimer Morgen, 1.12.99

Schilys Attacken aufs Asylrecht

Der Bundesinnenminister will weg vom individuellen Anspruch / Hilft ihm Brüssel dabei?

Von unserem Redaktionsmitglied Walter Serif

"Die ganze Asylgesetzgebung beruht doch darauf, dass nicht jeder, der vielleicht Anspruch auf Asyl hätte, hierher kommen kann und soll." Kay Hailbronner, Professor für Völker- und Europarecht an der Universität Konstanz, bringt mit dieser Binsenwahrheit die Scheinheiligkeit beim Streit um Bundesinnenminister Otto Schilys Thesen auf den Punkt.

In der Tat haben wohl manche vergessen, warum der Asyl-Grundgesetzartikel 16 geändert wurde: Weil einfach zu viele Asylbewerber nach Deutschland kamen. Die von den Kritikern als Amputation bezeichnete Grundgesetzänderung hat die Zahl der Asylbewerber von rund 400 000 im Jahr auf nur noch ein Viertel davon heruntergeschleust. Der Sozialdemokrat Schily will sich damit wohl nicht begnügen, wenn er behauptet: "97 Prozent der Asylbewerber sind reine Wirtschaftsflüchtlinge." Offensichtlich gehört das Einmaleins nicht zur hohen Kunst des gelernten Juristen. Schilys Zahlen sind unseriös. Es ist aber peinlich, wenn ein Minister an die Öffentlichkeit geht mit Zahlen, die genauso am Stammtisch fallen könnten.

Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge weiß es jedenfalls besser. Nimmt man die Statistik der ersten zehn Monate dieses Jahres als Basis, dann sieht die Lage anders aus. Denn zur amtlichen Anerkennungsquote von 3,48 Prozent zählt das Bundesamt weitere Gruppen auf, die schutzbedürftig sind. Insgesamt ergeben sich über zehn Prozent. "Schilys Zahlen sind nicht vollständig", räumt auch Hailbronner ein.

"Die Asylpraxis hat sich geändert. Nur ein kleiner Teil derjenigen, die in Deutschland bleiben dürfen, werden als politisch Verfolgte anerkannt. Die meisten bleiben aufgrund von Abschiebungsschutzregelungen oder anderen Regelungen", sagt Hailbronner. Darunter fällt zum Beispiel das so genannte "kleine Asyl". Paragraf 51 des Ausländergesetzes setzt das Abschiebungsverbot nach der Genfer Flüchtlingskonvention um. Bis Ende Oktober waren es mit 5,17 Prozent deutlich mehr als im "normalen" Asylverfahren. Weiteren 1,76 Prozent der Antragsteller billigten die Beamten ein Bleiberecht nach Paragraf 53 zu; dabei geht es um Menschen, denen Folter, Todesstrafe oder Gefahren für Leib und Leben drohen.

Hailbronner verweist zusätzlich auf den Sonderstatus der Kosovo-Albaner nach Paragraf 32 a, die eine Aufenthaltsbefugnis erhalten hätten. "Ohne Gerichtsverfahren und ohne bürokratischen Aufwand." Hailbronner schätzt diese Möglichkeit, die auf einer reinen politischen Entscheidung beruht, "weil sie es einem Staat wie Deutschland erlaubt, schnell und ohne langfristige Verpflichtungen und Lasten zu helfen. Das ist eben eine politische Entscheidung."

In eine ähnliche Richtung will auch der Bundesinnenminister. Der Ex-Grüne Otto Schily: "Die Entscheidung über ein Asylgesuch sollte sich stärker an moralischen als an juristischen Maßstäben orientieren." Mit diesem Ausspruch hat Schily teilweise politisches Entsetzen geerntet. Nicht nur die Grünen in der Koalition fragen sich, ob der Innenminister jetzt auf CDU-Kurs geht. Denn im Prinzip deutete Schily mit seinen Äußerungen eine Abkehr vom individuellen Anspruch auf Asyl hin zu einem "Gnadenrecht" an.

Nun kann Schily das Grundgesetz nicht ändern. Dazu bedarf es politischer Mehrheiten, die auf absehbare Zeit nicht in Sicht sind. Schily hat aber eine Debatte in Gang gesetzt, die wohl überfällig ist. Hailbronner stört sich zum Beispiel an der langen Verfahrensdauer. "Die Hälfte der Fälle an Verwaltungsgerichten sind Asylsachen. Und am Schluss kommen zehn Prozent durch. Das kann so auf Dauer nicht weitergehen."

Otto Schily sieht das genauso. Er unterscheidet das "Recht im Asyl" vom "Recht auf Asyl". Letzeres gebe es auch hier nicht. Ohnehin müssten die Deutschen zurückstecken, wenn die EU ihr "gemeinsames Europäisches Asylsystem" auf den Weg bringe. Hailbronner sieht zumindest "mögliche Kollisionen" und spricht von einem "politischen Problem", wenn die EU das umsetzen sollte, was sie sich auf dem Sondergipfel in Tampere vorgenommen hat: "Auf längere Sicht sollten die Regeln der Gemeinschaft zu einem gemeinsamen Asylverfahren und einem unionsweit geltenden einheitlichen Status führen, für diejenigen, denen Asyl gewährt wird,", heißt es in den Schlussfolgerungen. Was Schily sich davon erhofft, hat er schon früher formuliert: "Die Grenzen der Belastbarkeit durch Zuwanderung sind überschritten."