Der Bund 26.11.1999

Von Gnade (noch) keine Rede

TÜRKEI

Nachdem das oberste Gericht das Todesurteil gegen Abdullah Öcalan bestätigt hat, befindet sich die Regierung von Ministerpräsident Ecevit in der Zwickmühle: Für die EU, welcher die Türkei beitreten möchte, ist die Hinrichtung des Kurdenführers inakzeptabel; doch innenpolitisch wächst der Druck, das Urteil zu vollstrecken.

o BIRGIT CERHA, NIKOSIA

Der Chef der kurdischen Guerillaorganisation PKK hat nach seiner Verurteilung zum Tod nun alle türkischen Rechtsmittel ausgeschöpft. Abdullah Öcalan war nach einer Irrfahrt zur Asylsuche im Februar von einem türkischen Kommando aus Kenia entführt worden. Seine Anwälte machten nun schwere Mängel im Prozess, gravierende Behinderung der Verteidigung geltend.

Das Berufungsgericht aber hielt das Vorgehen der türkischen Justiz für fair und unantastbar. Damit steht der Hinrichtung des Kurdenführers juristisch nichts mehr im Wege. Doch das Problem Öcalan ist damit noch lange nicht gelöst und jenes der zwölf Millionen Kurden in der Türkei erst recht nicht. Eine Hinrichtung muss erst noch vom Parlament und schliesslich vom Präsidenten gebilligt werden. Öcalans Anwälte werden nun den Fall dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorlegen, der für eine Entscheidung bis zu zwei Jahren Zeit benötigt. Regierungskreise in Ankara betonten, sie wollten dessen Urteil abwarten, bevor sie Öcalans Schicksal beschliessen.

Exekution schadet der Türkei Manche Politiker, insbesondere auch Premierminister Ecevit, sind davon überzeugt, dass eine Exekution der Türkei grösseren Schaden als Nutzen bringen werde. Europäische Spitzenpolitiker stellten wiederholt klar, dass Öcalans Hinrichtung völlig inakzeptabel sei und Ankaras Weg in die EU blockieren könnte. Doch Ecevit steht unter massivem Druck seiner grossen Koalitionspartnerin, der rechtsextremen Partei der nationalistischen Bewegung (MHP), die eine rasche Hinrichtung Öcalans fordert. Diese Ansicht vertritt derzeit auch die Mehrheit im Parlament. «Wenn wir uns europäischem Druck beugen und die Todesstrafe nicht billigen, gefährden wir die Unabhängigkeit der Türkischen Republik», mahnt der stellvertretende MHP-Vorsitzende Sefat Cetin. Ankara hat in den vergangenen Monaten die Ausschaltung und Aburteilung Öcalans nicht genutzt, um (so aufgeklärte Türken), eine «historische Chance» zu ergreifen und endlich internen Frieden zu suchen. Ungeachtet aller Versöhnungsappelle, die Öcalan regelmässig aus dem Gefängnis an Türken und Kurden richtet, ungeachtet des Waffenstillstandes der PKK, zeigen das politische und militärische Establishment nicht die geringste Bereitschaft von alten, festgefahrenen Positionen zu weichen.

Ankara fordert Kapitulation Die PKK rückte verbal von allen Zielen - Selbstbestimmung, unabhängiger Staat, Autonomie - ab, doch Ankara fordert die totale, bedingungslose Kapitulation. Dementsprechend wird auch kurdischen Guerillas, die Öcalans Aufruf folgten und sich mit ihren Waffen den Behörden ergaben, nun der Prozess wegen Zugehörigkeit zu einer illegalen Organisation und Terrorismus gemacht. Eben erst bekräftigte Präsident Demirel erneut seine entschiedene Ablehnung einer eigenen kurdischen Fernsehstation, die nichts anderes bedeuten würde als den «ersten Schritt zur Separation». Und in der grössten Kurdenstadt, Diyarbakir, gibt das lokale Gouverneursbüro allmonatlich neue Listen von kurdischen Liedern heraus, die verboten bleiben. 250 sind es derzeit. Dass vor diesem Hintergrund US-Präsident Clinton jüngst in Ankara ausdrücklich türkisches Bemühen um grössere Meinungsfreiheit pries, mag viele überraschen. «Die Türkei», meint ein kurdischer Intellektueller bitter, «gleicht einer Frau, die ihr Gesicht durch dickes Make-up verschönert, um nach aussen hin Wohlgefallen zu erregen. Doch in ihrem Heim kann sie die wahren Züge nicht verbergen.»

Bald nichts mehr zu verlieren Kurdische Gruppierungen klammern sich nun an die Hoffnung, dass die EU, wenn sie die Türkei auf die Aufnahmekandidatenliste setzt, die misshandelten Kurden nicht vergisst und von Ankara die Achtung jener Grundrechte des Menschen einfordert, die längst internationales Gut sind. Gelingt dies nicht, dann wird sich unter den Zehntausenden verjagten, entrechteten und geächteten Kurden, die ohne Hoffnung in den Slums türkischer Städte dahinvegetieren, eine neue Bewegung formieren, die nicht mehr, wie Öcalan und die Mehrheit der PKK heute, von Gewaltlosigkeit und Brüderlichkeit spricht: Denn sie wird nichts mehr zu verlieren haben.

EU-Kandidatur als Chance dg. Ungeachtet des Todesurteils gegen Abdullah Öcalan sieht der deutsche Türkei-Experte Udo Steinbach «eine gewisse Aufweichung» in der straffen Gängelung der Politik durch das Militär. Der Direktor des Hamburger Orient-Instituts glaubt, die «weitgehende Ausschaltung des PKK-Terrors» eröffne politischen Spielraum. Allerdings tue das Militär «wenig, um die PKK-Kämpfer zur Übergabe zu ermutigen».

Steinbach hat am Mittwoch an der Universität Bern über die «Türkei - Bruchstelle oder Scharnier Europas» referiert, eingeladen vom Institut für Politikwissenschaft und der Schweizerischen Friedensstiftung. Scharnier kann das Land sein, wenn es seine Aussenpolitik - einen «Albtraum von 360 Grad» - sowohl in Europa verankert als auch mit den arabischen und zentralasiatischen Nachbarn gedeihlich gestaltet, trotz Konflikten um Wasser und Erdölpipelines. Doch die Gefahr von Brüchen ist akut. Der Autor des Standardwerks «Die Türkei im 20. Jahrhundert» gibt der EU eine Mitschuld an den gegenwärtigen nationalistischen Aufwallungen am Bosporus: Es sei ein Fehler gewesen, 1997 die Tür für alle Beitrittskandidaten zu öffnen - ausser für die Türkei. Das habe den demokratischen Reformern «den Teppich unter den Füssen weggezogen»; es sei «höchste Zeit für eine Korrektur», wie sie nächsten Monat auf der Traktandenliste des EU-Gipfels von Helsinki steht. Aber nicht jeder Wunsch sei der Türkei zu erfüllen: Steinbach ist strikt gegen die Lieferung deutscher Panzer, da diese gegen die Kurden eingesetzt würden.

Demokratie-Glas «halbleer» Zwar sieht der Experte das Glas der Demokratisierung zurzeit «eher halbleer als halbvoll», aber er glaubt, nur durch die Perspektive der EU-Mitgliedschaft könne die Türkei stabil auf den Weg zu inneren Veränderungen gebracht werden. Die Notwendigkeit dazu ergibt sich aus der Erstarrung des Kemalismus; als Hüterin des von Kemal Atatürk 1923 begründeten laizistischen Einheitsstaats sieht sich die Armee. Doch inzwischen werden weder die Generäle noch die Politiker mit den zwei grössten Herausforderungen fertig. Neben der Kurdenfrage ist dies gemäss Steinbach die Erstarkung des Islams. Je mehr die Religion aus der Öffentlichkeit verbannt werde, desto stärker trete sie auch als politische Kraft auf, und je mehr der Staatsapparat versage (wie beim grossen Erdbeben), desto mehr Zulauf erhielten Islamisten. Dadurch wiederum verschärfe sich die Diskriminierung der religiösen Minderheit der Alewiten. Nur durch volle Demokratie wären die auseinanderlaufenden Kräfte zu integrieren. Zwar werden laut Steinbach die entsprechenden Stimmen lauter, aber noch überwiegt das autoritäre Staatsverständnis.