junge Welt, 29.11.2000

Interview
Wieso stürmt die Polizei eine psychotherapeutische Praxis?

jW sprach mit dem Diplompsychologen Dietrich Koch, Leiter einer Beratungsstelle für politisch Verfolgte in Berlin

F: Am Freitag wurde Ihre Beratungsstelle Xenion von der Berliner Polizei gestürmt. Ist Ihre Arbeit denn so gefährlich?

Wir arbeiten mit politisch verfolgten Flüchtlingen, mit Menschen, die in ihrer Heimat Folter ausgesetzt waren und therapieren sie. Ich weiß nicht, was da gefährlich sein sollte.

F: Wieso dann die Polizeiaktion?

Am Vormittag, zur Zeit des Zugriffs, befand sich bei uns ein jugendlicher Kurde in Behandlung. Er war kurz zuvor ohne Fahrkarte in der Lokalbahn kontrolliert worden. Seine Papiere wurden einbehalten, und er traf völlig verunsichert in unseren Räumen ein. Über die Papiere fand die Polizei zu uns. Sie warf dem Jungen Erschleichung von Dienstleistungen beziehungsweise Schwarzfahren und die abgelaufene Duldung vor. Trotzdem ist kein Fahndungsbefehl ergangen. Mir jedenfalls hat man nichts dergleichen vorweisen können, und trotzdem stürmten sechs Beamte mit gezogenen Waffen die Praxis.

F: Dürfen Beamte ohne weiteres in eine ärztliche Praxis eindringen?

Das wird derzeit von Anwälten geprüft. Es gibt ja auch eine Schweigepflicht. Es gibt zwar keine rechtsfreien Räume, aber es muß Verhältnismäßigkeit vorliegen. Und die sehen wir verletzt und zwar ganz eklatant. Für uns war es das schlimmste anzunehmende Ereignis. Für unsere Arbeit brauchen wir natürlich einen Schutzraum. Die Menschen, die zu uns kommen, haben derart furchtbare Erlebnisse mit der Staatsgewalt gehabt, daß wir sie vor solchen Dingen schützen müssen.

F: Daher auch die Reaktion des Jungen, der aus dem Fenster im dritten Stock sprang. Wie geht es ihm jetzt?

Er liegt im Krankenhaus, ist Berichten zufolge aber außer Lebensgefahr.

F: Sie sagten, daß die Konsequenzen aus dem Zugriff von Gerichten festgestellt werden sollen. Werden Sie also Klage erheben?

Das erwägen wir zur Zeit. Ein rechtliches Vorgehen hängt vor allem aber davon ab, wie die Rechtslage aussieht. Nach unseren derzeitigen Informationen, ist der Vorgang rechtlich relativ ungeklärt und wird sich zu einer Streitfrage entwickeln. Aber unabhängig davon halten wir es für notwendig, politische Garantien einzufordern, damit so etwas nie wieder geschieht.

F: Zumal Ihre Beratungsstelle vom Berliner Senat, von der Europäischen Union und sogar vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR unterstützt wird.

Ja, das ist richtig. Wir erhalten für unsere Arbeit finanzielle Unterstützung dieser Stellen.

F: Steht zu befürchten, daß ein solches Beispiel trotzdem Schule macht?

Der Polizeieinsatz hat andere Zentren in Deutschland zumindest sehr verunsichert. In anderen Beratungsstellen, auch in Berlin, geht man davon aus, daß es sich bei dem Zugriff am Freitag um eine Grenzüberschreitung handelt, die unbedingt verurteilt werden muß. Und zwar mit allem Nachdruck. Es gibt ein befreundetes Zentrum aus Süddeutschland, das sich sofort mit der dortigen Präsidialbehörde in Verbindung gesetzt hat, um herauszufinden, ob man so etwas auch erwarten müßte.

Interview: Christian Kliver

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