Darmstädter Echo 30.9.2000

Die Türkei soll sich verändern

Diskussion bei Europa-Union – Münzer kritisiert deutsche Parteien

(es). Vor 35 Jahren versprach man sich die Ehe, doch die Beziehungen der Türkei zu Westeuropa wurden seitdem nicht einfacher, eher schwieriger und erhalten angesichts der gegenwärtig geführten Debatte um die EU-Erweiterung einen neuen Stellenwert.
Seit 1952 ist die Türkei Mitglied der Nato, ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union soll ihr die Aufnahme in die Staatengemeinschaft ermöglichen, doch dass dieser Weg sich allenfalls in kleinen Schritten vollziehen wird und auf beiden Seiten noch viel getan werden muss, verdeutlichte die vom Ortsverband der Europa-Union im Rahmen der Interkulturellen Wochen anberaumte Podiumsdiskussion über „Europa und die Türkei – ein schwieriger Weg“ in der Stadthalle.

Siegfried Münzer, der die Diskussion leitete, beschuldigte insbesondere die Parteien der Langsamkeit, denn sie sorgten weder für notwendige Informationen, noch für Aufklärung in der Bevölkerung; was die Distanz vergrößere und die Unklarheiten vertiefe.

Für den Europaabgeordneten der Bündnisgrünen, Ozan Ceyhun steht fest, dass ohne konstruktive Mitwirkung der Türkei in Europa und im Nahen Osten weder dauerhafte Stabilität noch Sicherheit zu erreichen seien, doch auch er äußerte indirekt seine Zweifel am Zustandekommen des Beitritts zur Europäischen Union.

Von der Türkei forderte Ceyhun als Voraussetzung eine genaue Definition ihrer Vorstellungen zum Beitritt und setzte sich für notwendige Reformen und Strukturveränderungen an den Verhältnissen (Kurden, Folter, Menschenrechte, Meinungsfreiheit und Demokratie) ein. Selbst wenn es dann immer noch nicht zum Beitritt komme und man die erbrachten Vorleistungen nicht honoriere, profitiere immerhin die türkische Bevölkerung und hätte den Vorteil, in einem demokratischeren Staat als jetzt zu leben. Bei Ablehnung müsse sich die Bundesrepublik freilich fragen lassen, weshalb sie mit zweierlei Maß messe und die Aufnahme von islamischen Balkanstaaten wie Bosnien, Albanien und Kosovo akzeptiere, die Türkei jedoch ablehne.

Der Europaabgeordnete der CDU, Michael Gahler, räumte ein, sich gegen einen Kandidatenstatus der Türkei ausgesprochen zu haben, weil es dem Land an Integrationsbereitschaft fehle. Gahler äußerte Zweifel, ob sich die Türkei jemals den Rechtsstand der europäischen Demokratien zu eigen machen könne, immerhin ein Gesetzbuch mit 88 000 Seiten, und ob sie außerdem bereit sei, ihre Bevölkerung über die damit anstehenden Veränderungen aufzuklären.

Die Demokratiefrage, darüber herrschte Übereinstimmung auf dem Podium, wird als das entscheidende Kriterium für die Beitrittsperspektive der Türkei eingestuft.