Frankfurter Rundschau 30.9.2000

Schwerer Rückschlag für Frieden in Nahost

Tote und Verletzte bei Unruhen in Jerusalem

Von Inge Günther

Bei Unruhen am zweiten Tag in Folge im Zentrum der heiligen Stätten Jerusalems ist die Gewalt am Freitag eskaliert. Mindestens sechs Menschen wurden in Jerusalem und im Westjordanland getötet.

JERUSALEM, 29. September. Israelische Bereitschaftspolizei drang am Freitag gewaltsam auf den Haram al-Scharif vor, dritthöchstes Heiligtum im Islam, von wo aus zuvor palästinensische Jugendliche Steine auf jüdische Gläubige an der Klagemauer geworfen hatten. Die Truppen schossen Stahlkugeln mit Gummiummantelung in die Menge. Der Meldung eines Westbank-Senders aus Ramallah zufolge wurden dabei fünf Palästinenser tödlich getroffen. Ebenso gab es über hundert Verletzte auf beiden Seiten.

Die Unruhen griffen am Nachmittag auf das Gebiet am Ölberg, den Jerusalemer Vorort Abu Dis sowie auf Bethlehem über, bei denen ein weiterer Palästinenser ums Leben gekommen sein soll. Ein Brandsatz traf auch ein israelisches Fahrzeug.

Der Haram al-Scharif, das Plateau, auf dem sich Al Aksa-Moschee und Felsendom befinden, war beim Ausbruch der Gewalt wegen des gerade beendeten Freitagsgebetes überfüllt mit Menschen. Auch an der Kotel, der Westmauer des einstigen Tempelareals, hielten sich aus Anlass des am Abend beginnenden jüdischen Neujahrfestes besonders viele Besucher auf. Auf Geheiß der Polizei verließen sie zeitweise den Platz. Die Lage in Jerusalems Altstadt war jedoch noch Stunden nach den Zusammenstößen aufs Äußerste gespannt.

Erst am Donnerstag hatte ein "Besuch" von Israels rechtem Oppositionschef Ariel Scharon auf dem Haram al-Scharif Unruhen ausgelöst. Die Palästinenser machten den als Hardliner geltenden Likud-Vorsitzenden auch für die jüngsten blutigen Vorfälle verantwortlich. Sie seien eine Fortsetzung des "religiösen Krieges, den Scharon entzündet hat", sagte Nabil Aburdini, ein Berater von Palästinenser-Präsident Yassir Arafat. Die Autonomie-Behörden appellierten an US-Präsident Bill Clinton, "das Massaker zu stoppen".

Zunächst blieb unklar, ob ein palästinensischer Anschlag nahe der Westbank-Stadt Kalkilya in Zusammenhang mit den Jerusalemer Ereignissen stand. Unter dem Ruf "Allahu Akbar" (Gott ist groß) hatte am Freitagmorgen ein Mann, angeblich ein palästinensischer Polizist, unvermittelt das Feuer auf israelische Kollegen eröffnet, die in diesem gemischt kontrollierten Gebiet gemeinsame Patrouillen fahren. Ein Israeli wurde dabei getötet. Arafat verurteilte das Attentat ausdrücklich.

Der neue Zyklus der Gewalt dürfte die Friedensgespräche überschatten. Ein möglicher Kompromiss ist bislang wegen am Konflikt um Hoheitsrechte über die heiligen Stätten Jerusalems gescheitert.