Rhein-Neckar-Zeitung, 27.9.2000

Türkin ließ im Buch Soldaten über Gräuel sprechen - Urteil erwartet

Von Claudia Steiner, dpa

Istanbul (dpa) - Die Journalistin Nadire Mater hatte ein Tabu gebrochen und sich mit «Mehmets Buch» beim türkischen Militär unbeliebt gemacht. In dem inzwischen verbotenen Buch lässt sie 42 «Mehmets» (Soldaten), die zwischen 1984 und 1998 im Südosten gegen die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gekämpft haben, vom Krieg erzählen. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft wirft der 51 Jahre alten Journalistin «Beleidigung und Herabwürdigung des Militärs» vor und fordert eine Haftstrafe zwischen zwei und zwölf Jahren. Am kommenden Freitag, genau ein Jahr nach Beginn des Prozesses, wird das Urteil erwartet.

«Ich habe mich nie als schuldig betrachtet», sagte Mater wenige Tage vor der Urteilsverkündung. In ihrer Verteidigungsrede hatte die Journalistin und Vertreterin von Reporter ohne Grenzen das Schweigen über den Krieg kritisiert, der nach offiziellen Angaben mehr als 32 000 Menschen das Leben gekostet hat. «Sie (die Soldaten) haben 15 Jahre lang geschwiegen, und wir haben nicht gefragt», sagte Mater vor Gericht. «Ich bin stolz, 'Mehmets Buch', das nur beim Generalstab und der Staatsanwaltschaft negative Reaktionen ausgelöst hat, geschrieben zu haben.»

Das Buch, das inzwischen als Raubkopie auf dem Markt ist, war für türkische Verhältnisse ein Bestseller: Gut zwei Monate nach Erscheinen wurde «Mehmedin Kitabi» verboten - bis dahin waren schätzungsweise 15 000 bis 20 000 Bücher über den Ladentisch gegangen. Häufig kauften Angehörige, die sich gewundert hatten, dass sich die jungen Männer während des Wehrdienstes so verändert hatten, das Buch. Die Soldaten, die anonym bleiben, erzählen von ihren Zweifeln am Sinn des Krieges («Ich sehe die Kurden nicht als Feinde.»). Sie sprechen von der Angst während der Gefechte, von Erniedrigungen und Grausamkeiten. Ein ehemaliger Soldat schildet, wie Kameraden getöteten kurdischen Rebellen die Ohren abschnitten.

«Schmutz, Disziplin, Flüche und Schläge. Ich wurde oft geschlagen. Ich bin mit 70 Kilogramm zum Militär gegangen und mit 49 Kilogramm zurückgekommen», sagt ein im westtürkischen Izmir lebender Mann. Ein Ex-Soldat aus Zentralanatolien klagt: «Ich habe eine schlechte Erinnerung an meine Militärzeit. Ich habe ständig gedacht: Was bin ich nur für ein schlechter Mensch.» Ein Soldat, der in der Provinz Tunceli im Einsatz war, schildert: «Wir sind viel herumgefahren. Die Dorfbewohner sehen Dich als Terroristen, nicht als Soldaten.» Andere wurden mit dem Krieg nicht fertig: «In Diyarbakir bin ich ein ganz nervöser und verschlossener Typ geworden. Ich habe lange mit niemanden gesprochen, und nur etwas gesagt, wenn man mich gefragt hat.»

Mater ließ die jungen Männer, die sie über Freunde und Bekannte gefunden hatte, einfach erzählen. «Ich habe nur geschrieben, was sie erzählt haben», sagte sie. Obwohl es wahrscheinlich ist, dass die ehemalige Sozialarbeiterin trotz Proteste von Amnesty International, Reporter ohne Grenzen und dem US-Journalisten Peter Arnett vom Gericht verurteilt werden wird, versucht sie optimistisch zu bleiben. «Egal wie das Urteil ausfallen wird. Dieses Buch versucht, uns die Wahrheit zu erzählen.» Die Wahrheit könne man nicht auslöschen, indem man sie verbietet. Im Falle eines Schuldspruchs will Mater Berufung einlegen.