Frankfurter Rundschau, 25.9.2000

Kaufrausch in der Türkei heizt Inflation an

Ankara zieht Notbremse bei Verbraucherkrediten / Auch Leistungsbilanz läuft aus dem Ruder

Von Gerd Höhler (Ankara)

In den Kaufhäusern und Basaren der Metropole herrscht in diesen Wochen großer Andrang. Möbel und Textilien, Fernseher, Waschmaschinen und Autos: die Händler können ihre Lagerbestände kaum so schnell auffüllen, wie die Kunden ihnen die Waren aus den Händen reißen. Der Kaufrausch sorgt für ein stattliches Wachstum. Im vergangenen Jahr war das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Folge der beiden verheerenden Erdbebenkatastrophen um 6,4 Prozent geschrumpft - der schwerste Einbruch seit Ende des Zweiten Weltkrieges. In der ersten Hälfte der aktuellen Periode betrug der Anstieg bereits wieder 4,3 Prozent, für das Gesamtjahr strebt die Regierung ein Plus von mindestens sechs Prozent an.

Doch der Boom hat seine Schattenseiten. Er gefährdet das von der Regierung des links-nationalistischen Premiers Bülent Ecevit und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) konzipierte ökonomische Sanierungsprogramm. Die Organisation unterstützt die Reformvorhaben mit einem Kredit von vier Milliarden Dollar.

Ihr Ziel, die Inflationsrate bis zum Jahresende auf 20 bis 25 Prozent zu drücken, wird die Regierung wohl verfehlen. Die hohe Nachfrage lässt die Preise weiter steigen. Im August lag die Teuerung immer noch bei rund 53 Prozent. Manche Experten meinen, das von der Regierung angepeilte Niveau sei ohnehin unrealistisch gewesen. Schließlich habe die Inflation in der Türkei seit mehr als zwanzig Jahren bei durchschnittlich 70 Prozent per annum gelegen; da könne man schon froh sein, wenn es bis Ende Dezember glücke, die Teuerung auf 35 Prozent zu drücken.

Sevket Pamuk, Wirtschaftsprofessor an der Istanbuler Bosporus-Universität, rechnet anhand historischer Studien vor, dass die Teuerung im Osmanischen Reich seit der Eroberung des damaligen Konstantinopel 1453 rund 460 Jahre lang nicht mehr als durchschnittlich 1,3 Prozent per annum erreichte. Seit 1914 aber habe die Geldentwertung nie wieder 20 Prozent unterschritten. Vor diesem historischen Hintergrund erscheint es umso ambitionierter, wenn Ankara jetzt verspricht, Ende 2002 die Inflation auf weniger als zehn Prozent drücken zu wollen.

Dass die Türken nun die Einzelhandelsgeschäfte stürmen, ist vor allem ein Ergebnis der im Rahmen des IWF-Programms drastisch heruntergeschraubten Zinsen. Verbraucherkredite gibt es derzeit für 53,2 Prozent. Angesichts einer Inflationsrate von 53 Prozent sind sie quasi zinslos. Kein Wunder, dass sich das Gesamtvolumen der Konsumentenkredite in den ersten acht Monaten dieses Jahres um 152 Prozent erhöht hat. Derzeit stehen die Bürger bei den Banken mit knapp 21 Milliarden Mark in der Kreide.

Inzwischen hat die Regierung die Notbremse gezogen. Sie erhöhte den Satz, den die Geschäftsbanken von den Konsumentenkrediten in einen Fonds der Zentralbank abführen müssen, von drei auf acht Prozent.

Aber nicht nur die Inflationsentwicklung bereitet Sorge. Auch die türkische Leistungsbilanz läuft aus dem Ruder. Während die Importe in den ersten sechs Monaten um 36 Prozent zunahmen, wuchsen die Ausfuhren nur um 4,5 Prozent. Das Handelsbilanzdefizit verdoppelte sich im Vergleich zur vorigen Periode auf knapp 11,7 Milliarden Dollar. Zwar erwägt die Regierung nun, mit Importbeschränkungen für Autos gegenzusteuern. Aber das im Sanierungsprogramm für dieses Jahr anvisierte Ziel, den Fehlbetrag in der Leistungsbilanz auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu begrenzen, dürfte sicher nicht erreicht werden. Fachleute rechnen inzwischen mit einem Minus von mindestens vier Prozent.