Frankfurter Rundschau, 23.09.2000

Die EU drängt und Ecevits rechter Vize mauert

Türkische Regierung streitet über Demokratisierung / Nationalistenpartei blockiert Reformen

Von Gerd Höhler (Athen)

Der türkische Premier Bülent Ecevit gerät unter Druck. Die EU drängt auf Reformen, aber die an der Regierung beteiligten Rechtsextremisten sträuben sich.

Ende des Jahres muss Ankara Farbe bekennen. Am 8. November will die EU-Kommission ihr Dokument zur "Beitrittspartnerschaft" mit der Türkei vorlegen. Das Papier wird festhalten, welche Voraussetzungen Ankara erfüllen muss, um sich für Beitrittsverhandlungen zu qualifizieren. Im Dezember soll dann die türkische Regierung der EU schriftlich erläutern, welche Anpassungsschritte geplant sind.

Nach einer diesem Thema gewidmeten Kabinettssitzung versprach Ecevit Ende dieser Woche zügige Reformen. Die Regierung wolle mehr Meinungsfreiheit schaffen, die Folter stoppen und den Ausnahmezustand in der Kurdenregion möglichst bald aufheben. Der Premier teilte aber nichts Konkretes mit und nannte auch keine Termine. Brisante Themen wie die Todesstrafe, die Rechte der Kurden oder die Rolle der Militärs in der Politik ließ Ecevit völlig unerwähnt. Beobachter sahen darin ein Indiz für koalitionsinternen Streit. Die an der Regierung beteiligte rechtsextremistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) habe im Kabinett durchgesetzt, dass die Reformvorschläge entschärft wurden, berichteten Medien.

Der Konflikt kreist vor allem zwei sehr dringliche Projekte: die Abschaffung der Todesstrafe und die Änderung des Strafrechtsartikels 312. Dieser berüchtigte "Gummiparagraf", mit dem kritische Stimmen zum Schweigen gebracht werden sollen, bedroht mit bis zu sechs Jahren Haft, "wer das Volk in Absicht auf Trennung nach Klasse, Rasse, Religion und Konfession zu Hass und Feindschaft verhetzt". In der Praxis reicht bereits die öffentliche Erwähnung des Kurdenkonflikts für eine Verurteilung. Dass er nicht länger haltbar ist, haben alle türkischen Parteien eingesehen - bis auf die MHP. Für MHP-Chef und Vizepremier Devlet ("Staat") Bahceli ist Artikel 312 eine "Garantie der verfassungsmäßigen Ordnung".

Auch gegen die von Ecevit und den anderen Parteien unterstützte Abschaffung der Todesstrafe erhebt Bahceli Einspruch. Zuvor soll als Exempel der zum Tode verurteilte PKK-Chef Abdullah Öcalan hingerichtet werden, fordert die MHP. Ecevit hat die Frage zunächst einmal auf 2001 vertagt. Aber bereits im Dezember wird er der EU sagen müssen, wann er die Todesstrafe abzuschaffen gedenkt. Bahceli zeigt bisher keine Kompromiss-Bereitschaft. Er will seine Klientel nicht verprellen.

Auch die Militärs mauern. Debatten über die von der EU angemahnte Aufhebung des kurdischen Sprachverbots in den Schulen und Massenmedien seien "reine Zeitverschwendung", zitierte Anfang September der türkische TV-Sender NTV aus einer Stellungnahme des Generalstabs. Und just am Freitag wurde bekannt, dass vier lokale TV-Stationen wegen "separatistischer" Berichte zwischen drei und 90 Tagen Sendeverbot erhalten haben.

Der Streit um die Demokratisierung könnte zum Knackpunkt für die Regierungskoalition werden. Vizepremier Bahceli, glauben Beobachter, könne den nächsten Urnengang kaum erwarten. Er hofft, seine MHP, die bei der Wahl 1999 mit 18 Prozent überraschend zweitstärkste Partei wurde, zum Sieg zu führen.