junge Welt, 22.09.2000

Verfolgung und Arabisierung

Irakisch-Kurdistan: Innere Konflikte und äußere Bedrohung. Von Erhard Thiemann (Teil 4 und Schluß)

Das baathistische Irak begreift sich als nationalistisch- arabischer Staat, obwohl die Zusammensetzung der Bevölkerung sehr heterogen ist. Die Baath-Partei hat bereits seit ihrer Machtübernahrne 1968 eine systematische und rigorose Politik der »ethnischen Säuberung« in Irakisch- Kurdistan betrieben und zu einem Kennzeichen irakischer Herrschaftspraxis gemacht. Die Arabisierung ist seit langem Bestandteil der chauvinistischen Politik der Baath-Partei gegenüber dem kurdischen Volk, mit der sie letztlich versucht, die Kurden zu assimilieren oder aber zu verfolgen und zu vertreiben.

Charakteristikum dieser Politik ist dabei, daß sie weniger »rassisch« als vielmehr territorial determiniert ist. Ihr Ziel ist vor allem, die Kurden als »ethnische Gruppe« in ihrer Verbindung mit dem Gebiet »Kurdistan« zu beseitigen. So werden Kurden in Zentral- oder Südirak prinzipiell nicht mehr als Gefahr für das Regime betrachtet, da sie nicht mehr in »ihrem« Territorium leben. In Nordirak lebende Kurden bekommen sogar ein »Hilfsangebot«, vor allem nach Südirak umzusiedeln. Wo Kurden aber in einem Gebiet leben, das als Land »Kurdistan« beansprucht wird, sind sie Verfolgung, Vertreibung, gravierender staatlicher Repression und massiven Menschenrechtsverletzungen bis hin zum Genozid, wie dies die Anfal-Operation belegte, ausgesetzt.

In den 90er Jahren hat diese Verfolgung, Vertreibung und die damit einhergehende Arabisierung ein neues Ausmaß angenommen. Dieser Kurs betrifft dabei insbesondere die kurdischen Siedlungsgebiete, die unter Kontrolle der irakischen Zentralregierung blieben, d. h. sich nicht innerhalb der »Schutzzone« bzw. den sogenannten Autonomiegebieten befinden, konkret die erdölreiche Provinz Kirkuk. In der Zeit von 1968 bis zum Kurdenaufstand von 1991 wurden hier insgesamt 779 Dörfer dem Erdboden gleichgemacht.

Die Saddam-Regierung hat Gesetze geschaffen, wonach die Kurden des Gouvernements faktisch enteignet und vertrieben werden können. So dürfen sie dort zwar ihr Eigentum verkaufen, jedoch ist es ihnen bereits seit den 70er Jahren verboten, Haus- und Grundbesitz zu erwerben, auszubauen oder zu renovieren. Nachlässe dürfen nicht auf kurdische Angehörige übertragen werden. In großer Anzahl wurden kurdische Schulen und Kultureinrichtungen geschlossen. Die Kurden dürfen in dieser Region auch nicht als Staatsbeamte beschäftigt werden.

Von 1991 bis einschließlich Juli 2000 hat die irakische Regierung aus den Städten Kirkuk, Khanaqeen, Mandati, Singar und anderen insgesamt 16 875 Familien, d. h. 100 329 Personen, deportieren lassen. Die absolute Mehrheit von ihnen ging in die kurdisch selbstverwalteten Gebiete, vor allem in die unter PUK-Kontrolle stehende Nachbarprovinz Sulaimania. 15 862 Familien wurden in dieser Zeit aus der Kirkuk-Region in das Gouvernement Sulaimania und 1 013 Familien in das Gouvernement Arbil vertrieben. Es ist inzwischen normale Praxis geworden, daß in jeder Woche zahlreiche Familien ihre Heimat verlassen müssen und ausgewiesen werden. Diese Menschen haben die Wahl, entweder in die kurdisch kontrollierten Gebiete von Irakisch-Kurdistan oder nach Südirak zu gehen. Wenn sie sich für die kurdischen Autonomiegebiete entschließen, verlieren sie ihren gesamten Besitz, einschließlich ihre Pässe. Wenn sie in den Südirak gehen wollen - wo sie dann eine Minderheit darstellen - können sie ihr Hab und Gut behalten.

Kurz vor der Volkszählung von 1997 bekamen die Kurden der Region die Aufforderung durch Bagdad, ihre ethnische Identität zu ändern und sich als Araber registrieren zu lassen. Den Verweigerern wurde mit zwangsweiser Ausweisung gedroht. Inzwischen wurde faktisch die kurdische Bevölkerungsmehrheit sowohl der Stadt Kirkuk als auch der Provinz Kirkuk beseitigt. Der Name der Provinz wurde umbenannt in »AI-Ta'mim«, was in arabisch »Nationalisierung« bedeutet (gemeint ist die Nationalisierung der ausländischen Erdölgesellschaften im Jahre 1972). Das gesamte umliegende Gebiet der Stadt und der Ölfelder wurden zur Militär- und Sicherheitszone erklärt, vorhandene Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, die Bewohner deportiert, das Gebiet großflächig mit Landminen ausgelegt und mit Militärposten besetzt. Gleiches betrifft die Zufahrts- und Verbindungsstraßen Kirkuks mit den Nachbarstädten.

Die Tragödie des kurdischen Volkes zeigt sich schließlich darin, daß die vertriebenen Kurden vielfach unter katastrophalen Bedingungen zusammengepfercht in großen Lagern leben müssen. Die Erwachsenen haben in der Regel keine Arbeit bzw. keine Möglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Kinder gehen nicht zur Schule. Die Menschen sind in ihrer Existenz auf Gedeih und Verderb von Zuwendungen der Wohltätigkeitsorganisationen abhängig. Eine große Anzahl machte und macht sich auf den Weg nach Europa und vergrößert hier das Heer der Asylsuchenden.

In großem Umfang siedelt die irakische Regierung Araber in der Region an. Bereits in der Zeit vor 1990 wurden Zehntausende arabische Familien aus Zentral- und Südirak in Kirkuk und Umgebung angesiedelt. Neben anderen Privilegien bekommen sie kostenfrei Häuser zur Verfügung gestellt und erhalten Beschäftigung in verschiedenen Einrichtungen, insbesondere im Machtapparat wie Polizei, Militär, Geheimdienst, staatlicher Verwaltung, Baath-Organisationen sowie in der »Volksarmee«, eine Art Schutz- und Kampfgruppe für die Städte, die Ölfelder, Straßen und lnfrastruktureinrichtungen. Bei den Kurden werden diese zugewanderten Araber in Abhängigkeit von der Höhe der erhaltenen Staatszuwendungen »Zehntausend-« oder »Zwanzigtausend-Dinar-Leute« genannt. In den nördlichen und östlichen Teilen der Kirkuk-Provinz ist dagegen die Ansiedlung von Arabern nicht so leicht, wegen der dort schwierigeren Schutzbedingungen. Das irakische Militär zerstörte deshalb dort Hunderte von Dörfern.

Kürzlich beschloß Bagdad die Ansiedlung von palästinensischen Flüchtlingen in der Region und versucht damit offensichtlich, einen Keil zwischen kurdisches und palästinensisches Volk zu treiben. Die zur Umsiedlung aufgerufenen Palästinenser kommen sowohl aus dem Irak als auch aus anderen Ländern. Mehrere hundert Familien dieser Palästinenser, die schon in Irak ansässig sind, werden jetzt in den Gebieten von Kirkuk und Khanaqeen angesiedelt und bekommen Häuser und landwirtschaftliche Nutzfläche.

Die fortgesetzte Vertreibung von Kurden - und in den letzten Jahren auch von Turkmenen (Anteil von rund 16 Prozent an der Gesamtbevölkerung der Provinz Kirkuk laut Volkszählung von 1977, der letzten verfügbaren Statistik) - und die Ansiedlung von Arabern auf deren Land verletzt insbesondere die UN-Sicherheitsratsresolution 688 von 1991. Die »internationale Gemeinschaft« reagiert bis heute jedoch nicht, um diese Vorgänge zu verurteilen, zu stoppen bzw. rückgängig zu machen.