Frankfurter Rundschau, 21.09.2000

Wenig wurde versprochen, kaum etwas gehalten

Heiko Kauffmann zieht nach zwei Jahren eine Bilanz rot-grüner Asylpolitik

Die asylpolitische Halbzeitbilanz der rot-grünen Bundesregierung fällt negativ aus, stellt der Sprecher der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge, Pro Asyl, Heiko Kauffmann, fest. Denn in ihrer Politik dominiere weiter die Kontinuität der Abwehr; Bundesinnenminister Otto Schily setze nämlich die Linie seines Vorgängers Manfred Kanther fast nahtlos fort. Wir dokumentieren Heiko Kauffmanns Analyse in einer gekürzten Fassung. Der Originaltext ist erschienen in der Zeitschrift Wissenschaft und Frieden, W & F Nr. 4, 2000 (September).

Ginge es nur nach den Stichworten in der medialen Berichterstattung und nach den Schlagzeilen in den Printmedien, so könnte der ungeübte Betrachter des politischen Diskurses in Deutschland tatsächlich auf die Idee kommen, die Themen Migration und Asyl erlebten eine Konjunktur: "Einwanderungskommission", "Asyl-Beirat", "Green Card" oder "Blue Card", "Bündnis für Demokratie und Toleranz" - all diese Stichworte und Leitbegriffe lassen bisher jedoch nicht einmal im Ansatz Bemühungen um eine neue menschenrechtlich orientierte Asylpolitik erkennen.

Dies auch deshalb, weil einer der Haupt-Stichwortgeber, Innenminister Otto Schily, die Hoffnungen auf einen rationalen konstruktiven gesellschaftlichen Diskurs immer wieder durch seriös verbrämten Populismus untergräbt, wenn er - etwa durch falsche Zahlen, durch aus der Luft gegriffene Behauptungen von den angeblichen "Grenzen der Belastbarkeit", durch seine Einlassung, das deutsche Asylrecht sei nicht Europa-kompatibel etc. etc. - unterschwellige Ressentiments anspricht und gefährliche Stimmungen schürt. Die Halbzeit der Legislaturperiode ist daher Anlass für eine kritische Zwischenbilanz der bisherigen rot-grünen Regierungsarbeit.

Nimmt man als Maßstab für diese Zwischenbilanz die Erwartungen und Forderungen von Seiten der Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen - wie sie in den "Mindestanforderungen an ein neues Asylrecht" zum Ausdruck kommen -, die Parteitagsbeschlüsse von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie deren Versprechungen in der letzten Legislaturperiode und schließlich die Koalitionsvereinbarung von Rot-Grün vom 20. Oktober 1998, so muss man das ernüchternde Fazit ziehen: Nur wenig wurde versprochen - kaum etwas gehalten!

Dies sei an zehn zentralen Punkten und Vorhaben der Koalition demonstriert.

1.

Altfallregelung

Schon bei der letzten Altfallregelung der Regierung Kohl/Kanther im März 1996 waren die Kriterien so eng gesetzt, dass zwar bis Ende 1997 diese Regelung von rund 7800 Menschen in Anspruch genommen werden konnte. Die Zahl war jedoch weit entfernt selbst von den Erwartungen der damaligen Bundesregierung, die von 20 000 bis 30 000 Menschen gesprochen hatte, denen diese Regelung zugute kommen würde. Bei der auf der Innenministerkonferenz in Görlitz am 19. November 1999 verabschiedeten Altfallregelung, für die die Innenminister wiederum zirka 20 000 "Begünstigte" prognostiziert haben, ist davon auszugehen, dass von dieser Altfallregelung auf Grund der restriktiven Ausschlussklauseln noch weniger Menschen als 1996/1997 begünstigt werden und ein Bleiberecht erhalten.

Besonders problematisch ist der "Doppelbeschluss" bei den Stichtagen - neben dem langjährigen Aufenthalt Sozialhilfe-Unabhängigkeit durch legale Erwerbstätigkeit zum 19. November 1999 -, die grundsätzliche Herausnahme von Flüchtlingen mit langem Aufenthalt aus dem ehemaligen Jugoslawien (Bosnien und Kosovo) und die unterschiedlichen Interpretationen und Auslegungen durch entsprechende Anwendungshinweise in den einzelnen Bundesländern.

Einige Bundesländer versuchen, mit ihrem Erlass die Anwendung der ohnehin restriktiven Altfallregelung der Innenminister sogar noch zu unterlaufen. So ordnet etwa Baden-Württemberg an, bei den Ausschlussgründen grundsätzlich einen "strengen Maßstab anzulegen", d. h. die Verwaltungspraxis legt die Voraussetzungen so aus, dass sie nur ganz Wenige der Betroffenen erreichen können.

Die in "innenministeriellen Schreiben" (IMS) angeordneten Vorgaben des Bayerischen Staatsministeriums des Innern laufen dem IMK-Beschluss zuwider und sind so restriktiv, dass in Bayern kaum jemand unter die Altfallregelung fällt (zum Stichtag 29. Februar 2000 sind - bei Tausenden von Anträgen - gerade einmal 128 Aufenthaltsgenehmigungen erteilt worden).

2.

Härtefallregelungen im Ausländergesetz

Schon vor den Bundestagswahlen 1998 hat Pro Asyl zusammen mit Kirchen, Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften eine Härtefallregelung im Ausländergesetz gefordert, um Spielräume für humanitäre Entscheidungen in Einzelfällen herbeizuführen. Härtefallkommissionen, wie sie in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein existieren, können ohne eine solche Härtefallklausel im Gesetz auf Grund der restriktiven rechtlichen Vorgaben den Betroffenen in vielen Härtefällen nicht wirklich helfen. So gewährt das geltende Ausländer- und Asylrecht zum Beispiel keinen umfassenden Schutz bei nichtstaatlicher Verfolgung, bei geschlechtsspezifischer Verfolgung oder bei Bürgerkriegsflüchtlingen.

Die rigiden Bestimmungen des Ausländerrechts verhindern allzu oft in vielen dramatischen Einzelfällen eine menschliche Lösung. Auch der von Bundesinnenminister Schily ins Gespräch gebrachte "Asyl-Beirat" kann eine Härtefallklausel im Gesetz und Härtefallkommissionen in den Bundesländern nicht ersetzen. Ob und in wie weit es hier durch eine Novellierung im Ausländergesetz künftig zu humanitären Lösungen in Einzelfällen kommen kann, bleibt zur Halbzeit der Legislaturperiode weiter ungewiss.

3.

Geschlechtsspezifische Verfolgung

In der Antwort auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke vom 12. Mai 1999 (BT.-Drucksache 14/1058) zum Thema "Anerkennung geschlechtspezifischer Fluchtgründe" hat die Bundesregierung auch zu Forderungen im Bezug auf Gesetzesänderungen - wie von Pro Asyl, Kirchen, Verbänden und Menschenrechtsorganisationen gefordert - Stellung genommen. Dabei betont sie, frauenspezifischen Belangen im Asylverfahren werde das Bundesamt durch umfangreiche Schulungsmaßnahmen und eine entsprechende Ausgestaltung des Asylverfahrens im Einzelfall gerecht. Wie in der Koalitionsvereinbarung angekündigt seien die Verwaltungsvorschriften "mit dem Ziel der Beachtung geschlechtsspezifischer Verfolgungsgründe" überarbeitet worden. Diese wurden am 7. Juni 2000 durch das Kabinett gebilligt und werden in Kürze in Kraft treten. Aber selbst wenn frauenspezifische Fluchtgründe durch die Änderungen der Verwaltungsvorschriften zu § 53 Ausländergesetz stärker als bisher berücksichtigt würden, bliebe davon die besonders restriktive deutsche Interpretation des Flüchtlingsbegriffs bezüglich der Anerkennung nicht-staatlicher (und hier insbesondere: geschlechtsspezifischer) Verfolgung unberührt.

Dass die Bundesregierung sich hier weiter gehenden Forderungen nach Gesetzesänderungen verschließt, entspringt keineswegs der Sorge um einen adäquaten Schutz für verfolgte Frauen, sondern vielmehr ihrer Sorge über die Folgen der Rücknahme eines ideologischen Axioms der Flüchtlingsabwehr: So erklärt sie in ihrer Stellungnahme für die Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss und anderer (BT-Drs. 14/1083) vom 23. Juni 2000: "Im Ergebnis ist das Thema frauenspezifische Verfolgung eine besondere Ausprägung der Diskussion um die generelle Anerkennung nichtstaatlicher Verfolgung. Der Wegfall des Erfordernisses der Staatlichkeit oder staatlichen Zurechenbarkeit der Verfolgungsmaßnahmen bzw. drohenden Menschenrechtsverletzungen durch Gesetzesänderungen ließe erheblichen Zuwanderungsdruck erwarten, und zwar nur teilweise durch die betroffenen Frauen. Ein Wegfall des Erfordernisses der Staatlichkeit würde alle Asylverfahren betreffen müssen."

Inzwischen hat der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages eine Petition von Pro Asyl auf Berücksichtigung frauenspezifischer Fluchtgründe in Asylverfahren beraten und beschlossen, die von mehr als 100 000 Menschen unterstützte Forderung an das Bundesministerium des Inneren zu überweisen und den Fraktionen des Bundestages zur Kenntnis zu geben.

Der Petitionsausschuss regt u. a. an, die Anerkennung frauenspezifischer Fluchtgründe ausdrücklich im Ausländergesetz zu regeln und auf längere Sicht, bei der Harmonisierung des Asylrechts auf europäischer Ebene, daran zu denken, bei geschlechtsspezifischer Verfolgung einen eigenständigen Asylanspruch zu gewähren.

Angesichts der Kontinuität der Politik Schilys zu Kanther ist jedoch absehbar, welch lange Wegstrecke bezüglich der Anerkennung geschlechtsspezifischer Fluchtgründe und der nichtstaatlichen Verfolgung noch zurückzulegen sein wird.

4.

Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und Rücknahme der deutschen Vorbehalte

Die öffentliche "offizielle" Rücknahme der "Vorbehaltserklärung" der Vorgängerregierung und die Ankündigung einer vollständigen Umsetzung der Kinderrechtskonvention in Deutschland wären wichtige Signale der neuen Bundesregierung zum 10. Jahrestag der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention durch die Vereinten Nationen am 20. November 1999 gewesen. Dies war auf Grund vieler Versprechungen von Politikern der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen vor dem Regierungswechsel sowie auf Grund des Entschließungsantrages des Bundestages vom 30. September 1999 (der die Bundesregierung erneut aufforderte, die Vorbehalte ihrer Vorgängerregierung zurückzunehmen) allgemein erwartet worden. Auch hier ist es der Bundesinnenminister, der Signale der Härte setzt (Beispiel: Beibehaltung des Flughafenverfahrens für Kinder).

Auch unter Rot-Grün bleibt das geltende Asyl- und Ausländerrecht, das der besonderen Schutzbedürftigkeit der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge und den gesetzlichen Erfordernissen des Kinderschutzes nicht gerecht wird, bisher unangetastet. Auch die neue Bundesregierung wird ihrer Verpflichtung zum besonderen Schutz von Kinderflüchtlingen in vielen Einzelfällen bisher nicht gerecht.

5.

Abschiebepraxis, Abschiebungshaft

Trotz der im rot-grünen Koalitionsvertrag angekündigten Überprüfung der Abschiebungshaft im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird auch hier die Politik der Vorgängerregierung nahtlos fortgesetzt. Abschiebungshaft bleibt auch unter Rot-Grün der Regelfall für viele Flüchtlinge und wird zu ihrer Endstation in Deutschland. Suizide, Selbstmordversuche, der Tod von Aamir Ageeb Ende Mai 1999, der auf dem Flug von Frankfurt nach München durch "Ruhigstellung" erstickte, und der Tod einer algerischen Asylbewerberin, die sich am 8. Mai 2000 in der Flüchtlingsunterkunft im Transitbereich des Rhein-Main-Flughafens das Leben nahm, werfen ein gleißendes Licht auf die Kontinuität einer Politik der Abwehr und der skandalösen Untätigkeit der verantwortlichen Politiker.

6.

Flughafenverfahren

Die Flüchtlingstragödie der Algerierin Naimah H., die sich am 8. Mai im Transit des Flughafens das Leben nahm, ist ein Lehrstück über die Mängel und die Unmenschlichkeit dieses Verfahrens, dessen Abschaffung von Kirchen, Menschenrechtsorganisationen, Verbänden und Pro Asyl seit langem gefordert wird, und das im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu überprüfen, die rot-grüne Bundesregierung sich im Koalitionsvertrag zur Aufgabe gemacht hat. Der zuständige Bundesinnenminister jedoch hat schon nach den ersten Inspektionen am Flughafen im Dezember 1998 - gegen den Willen des Koalitionspartners - verkündet, dass das Flughafenverfahren unverzichtbar sei, dass er aber der Kritik an den Bedingungen des Verfahrens für Flüchtlinge mit baulichen Verbesserungen begegnen wolle.

Der Tod von Naimah H. weist einmal mehr auf das Risiko der tödlichen Folgen dieses Verfahrens hin; das Flughafenverfahren bleibt ein Eilverfahren, das auf Fehler angelegt ist, weil unter dem Druck der Fristen in der verlangten Eilgeschwindigkeit nicht mit der notwendigen Sorgfalt und einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung verantwortlich über Menschenleben entschieden werden kann und weil der physische und psychische Druck auf Flüchtlinge unter den Bedingungen hermetischer Abriegelung und Kontrollen ständig wächst und unerträglich wird.

Scharf zu kritisieren ist, dass unter Rot-Grün die Zahl derer, die sich nach rechtskräftiger Ablehnung ihres Asylverfahrens noch viele Monate lang als De-facto-Internierte aufhalten müssen oder ebenso lang in Abschiebungshaft sitzen, noch drastisch gestiegen ist. So ist die Zahl der Flüchtlinge, die sich 30 Tage und länger im Flughafen befunden haben, 1999 auf 265 gestiegen (1997: 85 Flüchtlinge). Die Zahl der Flüchtlinge, die 1999 hundert Tage und länger interniert waren, ist auf 110 hochgeschnellt (1997: 7). (. . .)

7.

Soziale Situation/Asylbewerberleistungsgesetz

Flüchtlingsinitiativen, Kirchengemeinden, Menschenrechtsorganisationen und Pro Asyl haben immer wieder belegt, dass die Bedingungen des Asylverfahrens und der staatliche Umgang mit Flüchtlingen menschenrechtlichen Standards oft nicht mehr im vollen Umfang Rechnung tragen. Eingeschränkte Sozialleistungen, Ausbildungs- und Arbeitsverbote, eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Angst vor Abschiebung und oft monatelange Abschiebungshaft: Beispiele für die alltägliche Verletzung der Menschenwürde in Deutschland. Pro Asyl hat mit vielen Verbänden, den Kirchen, Gewerkschaften und anderen in den "Mindeststandards für ein neues Asylrecht" eine Gesetzesinitiative zur Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes gefordert, da dieses gegen das Gleichheits- und Menschenwürdegebot des Grundgesetzes verstößt.

Auch wenn die Regierungskoalition bezüglich des Asylbewerberleistungsgesetzes in der Koalitionsvereinbarung nichts festgelegt hat, muss dieses Thema - gerade angesichts der Bemühungen der Koalition gegen Rechtsradikalismus und für Toleranz - immer wieder thematisiert werden; denn gerade das die "Sozialpolitik" der Ära Kohl kennzeichnende Prinzip der Spaltung und Entsolidarisierung der Gesellschaft hat dazu geführt, dass vor allem Flüchtlinge zu Menschen zweiter Klasse degradiert wurden. Dadurch ist es die verantwortliche Politik, der Staat selbst, der durch Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Flüchtlingen erhebliche Mitverantwortung am Entstehen von fremdenfeindlichen und rassistischen Stimmungen trägt. Auch das langjährige Arbeitsverbot für alle Flüchtlinge durch den Blüm-Erlass vom 15. Mai 1997 trägt dazu bei, fremdenfeindliche Vorurteile in der Bevölkerung zu verstärken.

Obwohl die SPD genau diese Kritik 1997 - nach Bekanntwerden des Blüm-Erlasses - äußerte und seine Rücknahme forderte, ist es bisher (Stand: Juli 2000) noch nicht zu einer Aufhebung des Arbeitsverbotes gekommen. Immerhin gibt es auch hier Ankündigungen des innenpolitischen Sprechers der SPD, Dieter Wiefelspütz - allerdings verbunden mit einer Wartezeitregelung, auf deren Fristen sich die Koalitionspartner bisher offenbar nicht einigen konnten.

8.

Bündnis für Demokratie und Toleranz

Pro Asyl hat zusammen mit anderen Menschenrechtsorganisationen scharfe Kritik an Form und Inhalt des von Innenminister Schily inszenierten und der Öffentlichkeit am 23. Mai vorgestellten "Bündnis für Demokratie und Toleranz" geübt, das mit dem unverbindlichen Slogan "Hinschauen - Helfen - Handeln" zwar den Rechtsextremismus am Rande der Gesellschaft anprangern, aber den notwendigen Diskurs über Ursachen und Konzepte sowie - dieser Eindruck muss entstehen - über die staatlichen Anteile von Rassismus durch systematische Ausgrenzung und Rechtspopulismus eher vermeiden will. Dilettantische Planung des BMI, mangelnde Einbindung von Menschenrechtsorganisationen und NGO bei der inhaltlichen Planung sowie fehlende Konzepte führten auch zur gemeinsamen Absage von Amnesty International, Aktion Courage und Pro Asyl.

Der Bundesinnenminister hat bei der Auftaktveranstaltung des "Bündnisses" starke Worte benutzt: Eine Gesellschaft, die Fremdenhass dulde, verwirke das Recht, eine zivile Gesellschaft zu sein, und gefährde den inneren Frieden. Man fragt sich dann nur, warum Schily nicht die seit Jahren von internationalen UN-Gremien - u. a. vom UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung und vom UN-Sonderberichterstatter über Rassismus - an Deutschland bzw. seiner Asyl- und Migrationspolitik geübte Kritik ernst nimmt und ihre Empfehlungen z. B. für ein Antidiskriminierungsgesetz umsetzt.

Man muss (. . .) fragen: Wo war und wo ist dieses "Schily-Bündnis" nach dem Tod von Alberto Adriano, wenige Wochen später in Dessau, der Opfer brutalster Gewalt wurde? Wo war es nach dem Brandanschlag in Ludwigshafen, bei dem mehrere Kinder aus Kosovo verletzt wurden?

Ein Bündnis, das, "von oben kontrolliert", zivilgesellschaftliches Engagement vorantreiben soll - dabei aber wesentliche Ursachen für die Entstehung von Rechtsradikalismus wie diskriminierende Gesetze oder den Rechtspopulismus aus der Mitte der Politik ignoriert, ist wenig glaubwürdig. Eine glaubwürdige Alternative für ein breites gesellschaftliches Bündnis ist das von zirka 100 Nichtregierungsorganisationen getragene, nach dem Europäischen Jahr gegen Rassismus 1997 ins Leben gerufene "Netz gegen Rassismus", das einen Aktionsplan gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus erarbeitet und am 15. Juni der Öffentlichkeit vorgestellt hat.

9.

Europäische Flüchtlingspolitik

Auch im europäischen Zusammenhang geben die Äußerungen des deutschen Innenministers zur Genfer Flüchtlingskonvention und seine Abwehrhaltung gegenüber den Verfolgten Anlass zu großer Besorgnis. Demgegenüber hatten die europäischen Regierungschefs auf dem EU-Gipfel in Tampere, Oktober 1999, feierlich ihren Willen bekräftigt, die GFK weiterhin als Grundlage einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik unangetastet zu lassen und uneingeschränkt zur Geltung zu bringen. Dies musste auch als klare Absage gegenüber Versuchen verstanden werden, die GFK als überholt zu betrachten und anstelle eines einklagbaren Rechtes auf Asyl ein Gnadenrecht des Staates zur Basis der Asylgewährung zu machen.

Die Beschlüsse von Tampere müsste eigentlich auch Bundesinnenminister Schily als Vorgabe für eine Harmonisierung des europäischen Asylrechts verstehen, nämlich: Die Ausrichtung der Asylpolitik an der GFK und den darin festgelegten Definitionen, wer als Flüchtling zu gelten hat und Anspruch auf staatlichen Schutz genießt.

Die enge deutsche Interpretation des Flüchtlingsbegriffs bezüglich der Anerkennung nicht-staatlicher Verfolgung, die im Widerspruch zur Praxis fast aller europäischen Staaten steht und viele nach der GFK Schutzberechtigte in Deutschland in eine "Schutzlücke" fallen lässt, ist ein Haupthindernis bei der "uneingeschränkten und allumfassenden Anwendung der GFK", wie sie der Europäische Rat in Tampere beschlossen hat.

Als Beginn einer Trendwende in der Asylrechtsprechung gegen die enge Auslegung des Begriffs der politischen Verfolgung, kann sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. August 2000 zur "quasi staatlichen Verfolgung" erweisen. Die praktische Reichweite für die betroffenen Flüchtlinge hängt jedoch davon ab, ob Rot-Grün bereit sein wird, politische und gesetzliche Konsequenzen aus dieser Entscheidung zu ziehen.

Solange die europäische Asylpolitik vornehmlich aus dem Blickwinkel militärischen Sicherheits- und ordnungspolitischen Abwehrdenkens der Innenminister "gestaltet" wird und gleichzeitig eine "hochrangige Arbeitsgruppe" auf EU-Ebene Aktionspläne und Maßnahmen vorantreibt, die vornehmlich einer besseren Abwehr, denn eines besseren Schutzes schutzsuchender Menschen dienen, bleiben auch die Erklärungen von Tampere und das Bekenntnis zur GFK in der Koalitionsvereinbarung unglaubwürdig.

10.

Asyl im Spannungsfeld der Einwanderungsdiskussion

Die Green-Card-Initiative von Bundeskanzler Schröder für ausländische Computer-Experten hat die Debatte um Zuwanderung neu entfacht. Die CDU/CSU verknüpfte ihr "Angebot" an die Bundesregierung, über Einwanderungsregelungen zu diskutieren, reflexhaft mit der Forderung nach Abschaffung des Asyl-Grundrechts und Bundesinnenminister Schily katzbuckelte eilfertig vor seinem bayerischen Amtsbruder Beckstein mit der Überlegung, im Zuge der Einwanderungsdebatte auch das individuelle Grundrecht auf Asyl ändern zu wollen, da es angeblich nicht "Europa-kompatibel" sei.

Auch wenn ihm die Koalitionspolitiker deutlich widersprachen und sich auch der Bundeskanzler und der Bundespräsident klar für den Erhalt des Grundrechts auf Asyl aussprachen, lässt Schily kaum eine Gelegenheit aus, die Themen Einwanderung und Asyl zu vermischen.

Wer jedoch die kurzsichtige Formel "Asylrecht gegen Zuwanderungsgesetz" propagiert, spielt nicht nur Flüchtlinge gegen Migrantinnen und Migranten aus, er ignoriert auch die Ursachen von Flucht und Wanderungsbewegungen und stellt völkerrechtlich bindende Konventionen in Frage. (. . .)

11.

Asylpolitische Negativ-Halbzeit-Bilanz

Nach wie vor werden Menschen, die seit Jahren hier leben und integriert sind, deren Kinder hier geboren sind und keine andere Heimat kennen als Deutschland, in ihnen fremde Länder abgeschoben; nach wie vor fehlt eine Härtefallregelung im Ausländergesetz, die humanitäre Bleiberechtsregelungen ermöglicht; nach wie vor finden verfolgte Frauen, unbegleitete Flüchtlingskinder und Opfer von Bürgerkriegen und Gewalt nicht den angemessenen Schutz; nach wie vor werden Flüchtlinge bis zu anderthalb Jahre in Haft genommen, weil sie bei uns das Recht in Anspruch genommen haben, Schutz und Lebensperspektiven zu suchen; nach wie vor sind die sozialen Lebensbedingungen für Asylsuchende so unerträglich und abschreckend, so erschwerend und zermürbend, dass die Menschenwürde vieler Flüchtlinge tagtäglich in Deutschland verletzt wird.

Nach wie vor werden Menschen aus Deutschland abgeschoben und dabei des Risikos erneuter Verfolgung, der Folter und Verhaftung in ihrem Heimatland ausgesetzt.

Nach wie vor scheint der zuständige Innenminister Otto Schily entschlossen, in der Flüchtlingspolitik bruchlos die Arbeit seines Amtsvorgängers Manfred Kanther fortzusetzen. Erschreckend deutlich wurde dies insbesondere bei der Rückführung der bosnischen Kriegsflüchtlinge.

Im laufenden Jahr werden, etwa zur "Halbzeit" der Bundesregierung, mehr bosnische Kriegsflüchtlinge aus Deutschland in die Vereinigten Staaten von Amerika weitergewandert sein als sich hier noch aufhalten - zirka 30 000 von einst 350 000 Menschen. Dies ist das Ergebnis der bundesdeutschen Strategie eines seit nunmehr über vier Jahren andauernden fortgesetzten Ausreisedrucks auf bosnische Flüchtlinge, der in dieser Härte und Konsequenz im europäischen Vergleich - und leider muss hinzugefügt werden: auch unter der rot-grünen Bundesregierung - singulär geblieben ist.

Natürlich gab und gibt es in der Innen- und Asylpolitik auch hoffnungsvolle Zeichen: Die Arbeit des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe um die Abgeordnete Claudia Roth, die asylrelevanten Beschlüsse des SPD-Bundesparteitages von Dezember 1999, der Einsatz vieler Abgeordneter vor Ort für "Einzelfälle" in ihrem Wahlkreis, die Arbeit der Petitionsausschüsse und Härtefall-Kommissionen, die Reform der Lageberichte und der Austausch zwischen Auswärtigem Amt und Nichtregierungsorganisationen, der Appell von über 100 Abgeordneten für einen humaneren Umgang mit Balkanflüchtlingen sowie der einstimmig gefasste Bundestagsbeschluss dazu Anfang Juli, die Arbeit der Ausländerbeauftragten, die Aufnahme von Deserteuren aus dem ehemaligen Jugoslawien - indes, diese von der "offiziellen Politik" eher abweichenden Ausnahmen und positiven Beispiele machen letztendlich nur deutlich, "wie weit sich die deutsche Innenpolitik auf dem Gebiet des Flüchtlingsrechts von humanitären Grundsätzen entfernt hat, im Bund wie in den Ländern (...).

Nimmt man den Koalitionsvertrag als Maßstab der bisherigen Regierungspolitik, so muss zur Halbzeit von einer asylpolitischen Negativbilanz gesprochen werden.

Statt den Wählerauftrag für einen Politikwechsel anzunehmen, fährt die Regierung, unter der Verantwortung des Innenministers, im Bereich des Asylrechts weitgehend die harte Linie der Ära Kohl/Kanther fort. Für ihren Anspruch "Aufbruch und Erneuerung" fehlt der Koalition asylpolitisch bisher das Bewusstsein und der Wille, die ideologischen Verkrustungen der Vorgängerregierung aufzubrechen. (. . .)

Gerade wenn man der Gefahr eines schleichende Rassismus und der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit begegnen will, darf man nicht länger die Kontinuität zur Politik der Vorgängerregierung suchen. Dies steht dem eigenen Anspruch der Koalitionspartner an eine Politik der Zukunftsfähigkeit entgegen.

Nach 16 verlorenen Jahren eines als "Fremdenabwehrrecht" instrumentalisierten Ausländer- und Asylrechts dürfen nicht weitere Restriktionen die Politik bestimmen. Gefragt und gefordert sind Mut, Dialogbereitschaft, Perspektiven und humane Visionen für eine menschenrechtsorientierte Asylpolitik!