Die Presse (Wien), 20.09.2000

Votum aus dem Bauch: Schweizer stimmen über Einwanderungsstopp ab

Die Eidgenossen entscheiden am Sonntag über eine Fixierung der Ausländerquote auf 18 Prozent; Emotionen prägen die Debatte, rationale Argumente treten in den Hintergrund.

Von unserem Korrespondenten THOMAS GERBER

BERN. Rund 4,7 Millionen Schweizer entscheiden in einem emotionsgeladenen Anti-Ausländer-Referendum am Wochenende über einen Einwanderungsstopp. Rechtspopulisten wollen mit einer Volksinitiative eine Ausländerquote von höchstens 18 Prozent in der Bundesverfassung (Grundgesetz) verankern. Es ist die radikale Antwort auf ein Unbehagen in der Bevölkerung, die sich seit Jahren an der Ausländer- und Asylpolitik der Bundesregierung reibt. "Die Initiative ist eine letzte Chance, bevor die Dämme brechen", behauptet Philipp Müller. Der 48jährige bürgerliche Provinzpolitiker aus dem Kanton Aargau lancierte das Volksbegehren gemeinsam mit rechtskonservativen Gesinnungsgenossen. Sie setzen darauf, daß das Volk der Regierung in Bern einen Denkzettel verpaßt. Die Initiatoren wollen als Konsequenz der 18-Prozent-Regelung rund 100.000 Ausländer aus dem Land werfen. Angst vor Identitätsverlust

Viele Schweizer fürchten, daß das viersprachige Land seine Identität verliert. Der Ausländeranteil beträgt bei 7,2 Millionen Einwohnern 19,3 Prozent (1,38 Millionen Menschen). Im Kanton Genf beläuft sich der Anteil auf 37 Prozent, im Kanton Bern auf 11,6 Prozent. Hätte die Schweiz die gleichen Einbürgerungsregeln wie die EU-Länder, so läge der Ausländeranteil bei rund zehn Prozent. "Die Initiative ist eine Rechnerei, vielleicht sogar eine Abrechnerei", sagt Justizministerin Ruth Metzler, eine Christdemokratin. "Jeder vierte Arbeitsplatz ist durch einen Ausländer besetzt. Wir brauchen sie in unserer Wirtschaft." Ohne ausländische Arbeitskräfte würden viele Unternehmen, Spitäler und das Gastgewerbe stillstehen. Die Front gegen die Initiative steht: Regierung, Parlament, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Kirchen und Medien bekämpfen die starre Quote. Die Initiative gefährde die Fortführung der humanitären Tradition und stelle das bilaterale Abkommen Schweiz-EU in Frage, warnen die Gegner. Der von den Parlamenten der EU-Länder noch nicht ratifizierte Vertrag regelt auch die Personenfreizügigkeit. Das linke Komitee "Für eine tolerante Schweiz" behauptet, die Initiative schädige das Ansehen der Schweiz. Die Gegner des Begehrens stellen die Alltagsprobleme zwischen Schweizern und Ausländern nicht in Abrede. Die Initiative bringe keine Lösungen, betonen sie, sondern schaffe nur neue Probleme. Aber die Eidgenossen entscheiden am Wochenende nicht aufgrund rationaler Argumente, sondern aus dem Bauch heraus. Als einzige Regierungspartei schert die populistische Schweizerische Volkspartei (SVP) in einer zentraler Frage des Landes einmal mehr aus. Die stärkste bürgerliche Kraft stützt das Begehren und stellt sich damit in eine Reihe mit kleineren Rechtsaußengruppen. SVP macht Stimmung Die SVP sammelt auch Unterschriften für ihre Volksinitiative "Stopp dem Asylmißbrauch". Der "überbordenden Zuwanderung müssen endlich Grenzen gesetzt werden". Nur eine Quote garantiere, daß sich die Fremden integrieren könnten, geben sich die Befürworter der 18-Prozent-Initiative moderat. Doch die gleichen Politiker verhinderten in der Vergangenheit die Finanzkredite für staatliche Integrationsprojekte. Die Initiative "für eine Regelung der Zuwanderung" ist seit 1965 der siebente Versuch von Rechtsgruppen, die Zahl der Ausländer zu reduzieren. Die Hürden sind auch dieses Mal hoch: Weil die Initiative eine Änderung der Bundesverfassung zum Ziel hat, müssen die Mehrheit der Stimmbürger und die Mehrzahl der 26 Kantone das Begehren gutheißen. In dem hitzigen Meinungsstreit wird vergessen, daß sich das Verhältnis der Eidgenossen zu den ausländischen Mitbürgern stetig wandelt. In den sechziger Jahren entzündete sich der Volkszorn an den ins Land geholten Arbeitskräften aus Italien. Heute gelten italienische Teigwaren und Pizzas als eidgenössische Nationalgerichte. Die Tamilen, die in den achtziger Jahren als Flüchtlinge ins Land kamen, sind mittlerweile geschätzte Arbeitskräfte und Kleinunternehmer.

Flüchtlinge vom Balkan Dafür prägen jetzt die Kriegsflüchtlinge und Arbeitskräfte aus Ex-Jugoslawien das negative Fremdenbild im Alpenland. Müller, der Initiator der Anti-Ausländer-Initiative, hat präzise einen Widerspruch in der Realität der Eidgenossen festgestellt: "Die gleichen Leute, die billige Knechte für einen Stundenlohn von 7,80 Franken (70,2 S; 5,1 Euro) beschäftigen wollen, schimpfen am Abend über die Ausländer", sagt er: "Zuerst läßt man sich die Schuhe putzen, nachher flucht man über den Neger."