Frankfurter Rundschau, 19.09.2000

Demokratie bitte nur in kleinen Dosen

Das türkische Militär bremst die Annäherung des Landes an Europa, weil es Einmischung befürchtet

Von Gerd Höhler

Er ersetzte die arabischen Schriftzeichen durch das lateinische Alphabet, führte den abendländischen Kalender ein und verordnete seinem Volk europäische Kleidung statt der traditionellen orientalischen Gewänder. Mustafa Kemal Atatürk, "Vater der Türken" und Begründer der modernen Republik, wies seinem Land den Weg nach Westen.

Kemal kam aus der Armee, und bis heute sehen sich die Streitkräfte in seiner Tradition, verstehen sich als Wächter über sein politisches Erbe. Unter Berufung auf Atatürk übernahmen die Generäle drei Mal seit 1960 die Macht. Doch in einem Punkt treten die heutigen Militärs nur sehr zögerlich in die Fußstapfen ihres Idols. Auf dem Weg der Türkei nach Europa sind es vor allem die Generäle, die nun bremsen. Nicht, dass die Militärs die von Atatürk vorgegebene Westorientierung in Frage stellten. Aber wenn türkische Generäle vom Westen reden, denken sie nicht an die in Europa oft beschworene Wertegemeinschaft, sondern an ein militär-strategisches Konzept. Ihr Blick geht deshalb eher über Europa hinweg gleich in die USA. In Washington fühlen sie sich besser verstanden als in Brüssel oder Berlin.

Als erniedrigend empfand man im türkischen Generalstab die monatelange Debatte um die Lieferung des deutschen Kampfpanzers Leopard 2. Sie hat den Militärs vor Augen geführt, worauf sie sich mit der von ihren Politikern propagierten EU-Annäherung eingelassen haben: Selbst um den Preis eines entgangenen Milliardenauftrags scheinen manche Europäer entschlossen, sich in Dinge einzumischen, die man bisher in Ankara als "innere Angelegenheiten" betrachtete und für die man glaubte, sich nicht rechtfertigen zu müssen - Menschenrechte, Minderheitenschutz, Meinungsfreiheit.

Am 8. November will die EU-Kommission ihren Entwurf einer so genannten Partnerschafts-Vereinbarung vorlegen, die eine Art Fahrplan für die weitere Annäherung der Türkei an die EU darstellen soll. Schon vorab versucht Ankara auf diplomatischen Kanälen, möglichst alle kontroversen Themen aus diesem Dokument zu tilgen. Von der Zypernfrage soll ebenso wenig die Rede sein wie von den Spannungen mit Griechenland oder den völkerrechtlich höchst fragwürdigen türkischen Gebietsansprüchen in der Ägäis. Auch eine Erwähnung der Minderheitenproblematik oder gar, konkret, der Kurdenfrage verbittet sich Ankara. Das könne "zu Reibungen führen" und "dem gesamten Beitrittsprozess schaden", zitiert die Turkish Daily News Diplomaten des türkischen Außenministeriums. Aus der Sicht Ankaras stehen Menschenrechtsverletzungen und Demokratie-Defizite einer Annäherung an die EU also nicht im Wege. Man muss sie nur verschweigen. Ihre Erwähnung dagegen empfindet man in Ankara als Zumutung, als hinderlich und diskriminierend.

An diesem Dienstag wird der türkische Außenminister Ismail Cem mit der EU-Kommission und den Fraktionsführern des Europaparlaments zusammentreffen. Cem werde in Brüssel darauf dringen, die Partnerschafts-Vereinbarung möglichst allgemein zu halten, heißt es in türkischen Presseberichten. Doch dessen ungeachtet ist der für die Erweiterung zuständige Kommissar Günter Verheugen entschlossen, in dem Dokument sehr detailliert aufzulisten, welche Anforderungen Ankara in welchen Zeiträumen zu erfüllen hat, wenn sich das Land für Beitrittsverhandlungen qualifizieren will.

Dabei wird es auch um die Rolle der Militärs in der Politik gehen. Kritisch sieht man in Brüssel vor allem die Rolle des Nationalen Sicherheitsrats (MGK). Dieses Gremium setzt sich zwar paritätisch aus den Oberkommandierenden der Streitkräfte und führenden Regierungspolitikern zusammen, in der Praxis aber geben die Militärs den Ton an. Laut Verfassung formuliert das Gremium lediglich Empfehlungen, aber bisher hat es keine Regierung ungestraft versucht, sich dem MGK zu widersetzen. 1997 zwangen die Militärs den islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan zum Rücktritt, nachdem er gezögert hatte, "Empfehlungen" des MGK zur Eindämmung fundamentalistischer Umtriebe umzusetzen.

Jetzt kritisierte der Sicherheitsrat, wie es in einer von den Militärs diktierten Formulierung hieß, die "subjektiven und überzogenen Demokratisierungsforderungen" der EU, die zur Zerstörung der "nationalen Einheit" der Türkei führen würden. Außenminister Cem saß mit am Tisch und wagte nicht zu widersprechen, wie Teilnehmer der Sitzung berichten.

Aber selbst wenn man, was jetzt im Gespräch ist, die Mehrheitsverhältnisse im MGK zu Gunsten der Zivilpolitiker ändern würde, wäre damit nichts gewonnen. Das Wort der Generäle hat Gewicht. Wenn Generalstabschef Hüseyin Kivrikoglu spricht, horcht die Nation auf, und die Politiker gehen in sich. Dabei wird als selbstverständlich hingenommen, dass die Militärs Weisungen auch zu außen-, rechts- oder gesellschaftspolitischen Fragen erteilen. Mal wendet sich Kivrikoglu öffentlich gegen die Abschaffung des Strafrechts-Gummiparagraphen 312, der regimekritische Äußerungen als "Volksverhetzung" ahndet, dann wieder belehrt der oberste Soldat das Parlament, an welchem Termin Wahlen stattzufinden haben, oder er beklagt die angebliche Unterwanderung des Staatsapparats und der Justiz durch "tausende" islamische Fanatiker.

Die Politiker kuschen. Kleinlaut meinte der für Europafragen zuständige Vize-Premier Mesut Yilmaz, "bestimmte Kreise" (er wagte die Militärs nicht beim Namen zu nennen) glaubten, die EU habe der Türkei den Kandidatenstatus nur zugestanden, um das Land zu spalten. "Wir müssen diese Leute überzeugen, dass das Gegenteil richtig ist", meinte Yilmaz devot.

Dass jemals ein türkischer Regierungschef einen General seines Amtes enthoben hätte, ist nicht bekannt. Umgekehrt schon. Nur wenige wagen es, die Autorität der Militärs anzuzweifeln. So forderte der Präsident des obersten türkischen Gerichtshofs, Sami Selcuk, jetzt eine radikale Reform der dem Land 1982 von den damals regierenden Generälen verpassten Verfassung. Und Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer, ein früherer Verfassungsrichter, verweigerte kürzlich trotz massiven Drucks des Generalstabs einem nach seiner Meinung verfassungswidrigen Radikalenerlass seine Unterschrift.

Die Militärs sehen in den Demokratisierungs-Vorgaben der EU nicht nur eine Gefahr für die von ihnen seit Jahrzehnten kultivierte autoritäre Staatsordnung, sondern auch eine ernste Bedrohung ihrer eigenen dominierenden Rolle. Dabei geht es nicht zuletzt um persönliche Interessen der in vielerlei Hinsicht privilegierten Offizierskaste. Auch historische Ängste mögen bei den Europa-Vorbehalten eine Rolle spielen. Jeder türkische Offiziersanwärter lernt, dass die europäischen Großmächte nach dem Ersten Weltkrieg das Osmanische Reich zu zerstückeln versuchten. Atatürk und seine Armee waren es, die den Europäern Einhalt geboten und die territoriale Einheit der neuen Republik sicherten - nicht mit, sondern gegen Europa.

Heute allerdings, so darf man spekulieren, würde der visionäre Staatsmann Atatürk wohl zu den Vorreitern eines EU-Beitritts der Türkei gehören. Auf ihr Idol können sich die Generäle daher kaum berufen, wenn sie sich jetzt einer Annäherung an die EU in den Weg stellen.