Neue Zürcher Zeitung, 19.09.2000

Neuer Anflug irakischen Selbstvertrauens

Sorgen in Kuwait und in Washington

Der Irak hat die durch die hohen Erdölpreise verursachte Krise im Westen dazu benutzt, um sich mit Drohungen gegen Kuwait wieder ins Rampenlicht zu rücken. Das Emirat und Amerika erhoben ihrerseits die Faust gegen Bagdad. Russland durchbrach erneut das Luftverkehrsembargo und sandte ein weiteres Zivilflugzeug in den Irak.

vk. Limassol, 18. September

Der Irak ist wegen der Erdölkrise im Westen wieder in den Vordergrund des Interesses als Konfliktherd gerückt, was nach Präsident Saddam Husseins Meinung allein den Weg zur Aufhebung des Uno-Embargos verkürzen kann. Es genügte eine Aufwärmung der alten Anklagen gegen Kuwait, wonach dieses unter der Grenze hindurch irakische Erdölreserven plündert; hastige Erklärungen militärischer Wehrbereitschaft erfolgten aus dem Emirat. Und der amerikanische Verteidigungssekretär Cohen ermahnte anlässlich des Besuchs auf einem Kriegsschiff, ein Rückfall Saddams in «alte Praktiken» stiesse auf eine vernichtende Antwort der alliierten Golf-Truppen. In diplomatischen Kreisen gehen plötzlich Spekulationen um, die - wahrscheinlich auf amerikanische Inspiration hin - mit möglichen Militärschlägen der USA gegen den Irak im nächsten Monat rechnen, eben rechtzeitig vor den Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten. Die irakische Regierungspresse klagte umgekehrt Amerika an, es plane mit saudischer und kuwaitischer Hilfe eine Strafaktion. Andere Interessierte machen sich bereits Gedanken über die Auswirkungen auf den Ölpreis im Falle eines Ausbleibens der irakischen Lieferungen. Der Irak fördert derzeit täglich über drei Millionen Fass.

Expansion oder Drosselung?

Der irakische Erdölminister Amer Rashid sprach am letzten Donnerstag erstmals wieder davon, dass die Kuwaiter während der letzten Jahre in dem gemeinsamen Ölfeld von Rumeilah waagrechte Bohrungen vorgenommen hätten, um die irakischen Reserven zu plündern. Dann stürzten sich alle Stimmen Bagdads auf das alte Thema. Die Regierungszeitung «Al-Jumhuria» schätzte den «Diebstahl» auf täglich bis zu 350 000 Fass. Saddam hatte den Vorwurf schon 1990 erhoben, und darauf folgte dann der staatliche irakische Raubzug nach Kuwait. Der Hader der Iraker schürte sich später daran, dass nach der Befreiung Kuwaits und der Neuziehung der Grenze ein beträchtlicher Teil des gemeinsamen Feldes an das Emirat verloren ging. Jetzt sprechen Bagdader Blätter davon, dass nach neuen Sondierungen die Reserven von Rumeilah bis zu 100 Milliarden Fass umfassen könnten, womit das Feld zu den grössten der Welt zählen würde.

Die versteckte Drohung gegen Kuwait muss auf Anweisungen Saddam Husseins zurückgehen, und die raschen rhetorisch-militärischen Reaktionen akzentuierten erneut die Verletzlichkeit des kleinen Nachbarn. Am Sonntag präsidierte der Diktator persönlich den Ministerrat und liess sich von Rashid über die Preiskrise im Westen und die letzten Opec-Beratungen informieren. Dann belehrte er das Kollegium, dass die Welt trotz der mehrfach erhöhten Opec-Förderung ein verschärftes Bedürfnis nach irakischem Erdöl verspüre. Saudiarabien könne das Manko nicht füllen. Er kokettierte mit der Möglichkeit eines verdoppelten Förderpotenzials seines Landes, mehr als sechs Millionen Fass im Tag; einen Termin dafür nannte er aber nicht. Zwar entspricht eine maximale Ausschöpfung der derzeit hohen Erdölrendite bestens den irakischen Erfordernissen, doch rechnen westliche Fachleute auch mit der Möglichkeit einer plötzlichen Drosselung der irakischen Förderung. Das müsste Saddam Hussein unversehens in die Position desjenigen rücken, der der Welt seine Bedingungen diktieren kann - zuallererst sicher die Aufhebung der Sanktionen.

Der Höhenflug des Ölpreises hat das neuerdings wachsende irakische Selbstbewusstsein im Umgang mit den Nachbarn merklich gestärkt. Das äussert sich in einer Welle der Spannungen nach allen Seiten. Der auf kleinem Feuer kochende Stellvertreterkrieg mit Iran flammte in der Nacht auf Sonntag kurz auf, als die von Iran unterstützte irakische Opposition mitten in der Tigris-Stadt vier Katjuscha-Raketen abfeuerte. Die irakische Regierung drohte mit Vergeltung, wie schon mehrmals bei einem ähnlichen Schlagabtausch in früheren Monaten. Saudiarabien und Kuwait wurden von den Irakern bei der Arabischen Liga verklagt, weil sie ihr Territorium als Basen für die regelmässigen Überflüge des Iraks durch amerikanische und britische Kampfflugzeuge zur Verfügung stellen. Jordanischen Geschäftsleuten wurde bei ihren jüngsten Besuchen in Bagdad eine schwarze Liste von Unternehmen im Königreich präsentiert, welche die Normalisierung mit Israel pflegten. Weiter hält Bagdad Jordanien vor, dass es den Überflug ziviler Flugzeuge nach dem Irak verhindert. Gegenüber der Türkei drängt Bagdad immer wieder auf Verzicht auf die militärischen Übergriffe im Norden bei der Verfolgung kurdischer Freischärler; ein noch grösserer Vorbehalt betrifft die Abzweigung wachsender Wassermengen aus dem Oberlauf von Euphrat und Tigris.

Russische Luftfahrtdiplomatie in Bagdad

Einziger konkreter Erfolg des Iraks ist ein Vorstoss der russischen Diplomatie zur Durchbrechung des Luftverkehrsembargos. Am Sonntag landete das zweite russische Verkehrsflugzeug seit der Wiederöffnung des Bagdader Flughafens am 19. August nach einem Direktflug aus Moskau. Über die Routenwahl wurde nichts bekannt, doch wahrscheinlich flog das Flugzeug durch den syrischen Luftraum. In Moskau hiess es dazu, der Flug sei die praktische Antwort auf die unwillkommenen Vorstellungen Amerikas, dass das Uno-Luftembargo nicht durchbrochen werden dürfe. Aeroflot plant nach offiziellen Angaben ab Oktober drei Flüge wöchentlich nach Bagdad, doch sind nach Angaben russischer Beamter die Probleme mit den Überflugrechten in den Nachbarländern noch längst nicht gelöst. Die entsprechenden Uno-Resolutionen verbieten kommerzielle Transaktionen im Verkehr mit dem Irak, ausdrücklich auch im Flugverkehr; über deren Bedeutung für die Zivilluftfahrt streiten sich unter anderem die Rechtsexperten der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats.