junge Welt,16.09.2000

Interview

Warum werden in der Türkei Lehrer verbannt?

jW sprach mit Muharrem Cebbe, ehemaliger Sektionssekretär der Lehrergewerkschaft Egitim Sen in Diyarbakir

F: Sie wurden nach Bilecik, etwa 2 000 Kilometer von Diyarbakir entfernt, verbannt. Wann und warum ist das geschehen?

Ich wurde im November 1999 verbannt. Der Grund war meine Teilnahme an einem zweitägigen Hungerstreik, mit dem wir als Plattform der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes gegen die Verbannungen protestiert haben. Aufgrund dieser Aktion wurden auch wir dann mit der Verbannung bestraft. Ich arbeitete bis dahin in Diyarbakir als Lehrer und war im Vorstand der hiesigen Lehrergewerkschaft Egitim Sen.

F: Wie viele Lehrer wurden bisher aus Diyarbakir verbannt? Ich bin der 144. Inzwischen ist die Zahl der verbannten Lehrer allein hier in Diyarbakir auf 146 gestiegen. Erst zu Beginn der Sommerferien, am 16. Juni diesen Jahres wurde unser Vorsitzender Hayrettin Altun nach Kahraman im Südwesten der Türkei verbannt. Seit 1992 wurden aus der gesamten Region über 500 Personen verbannt.

Neben Lehrern sind vor allem Personen aus Gesundheitsberufen betroffen, sowie aus anderen Berufen des öffentlichen Dienstes. In der vergangenen Woche wurden 44 Lehrer aus Batman mit der Verbannung bestraft.

F: Welche Möglichkeiten haben Sie, sich gegen diese Strafe zu wehren oder Widerspruch einzulegen?

Es gibt zwei verschiedene Arten der Verbannung. Die eine, die uns hier in der Region vor allem betrifft, wird nach freier Willkür vom Ausnahmezustandsgouverneur ausgesprochen. Dagegen ist keinerlei Widerspruch möglich. Die zweite Variante ist eine Disziplinarstrafe gegen Beamte, gegen die innerhalb von zwei Monaten Widerspruch beim Verwaltungsgericht eingelegt werden kann. Das ist aber vielen Betroffenen nicht bekannt und wird auf dem Verbannungsbescheid nicht mitgeteilt. Von daher legen viele gar nicht oder zu spät Widerspruch ein.

F: Es wird derzeit viel von der »Demokratisierung« in der Türkei geredet. Können Lehrer ihren Beruf überhaupt frei ausüben, solange es diese Verbannungsstrafen gibt?

Nicht nur wir Lehrer, keiner der Beamten und Beschäftigten im öffentlichen Dienst hat vernünftige Arbeitsmöglichkeiten. Dies betrifft nicht allein die Verbannungsstrafe, sondern zahlreiche Verbote, so die Kleiderordnung, die uns vorschreibt, wie und was wir anzuziehen haben. Wir dürfen keiner Partei angehören und nicht einmal das Gebäude oder Büro einer Partei betreten. Uns ist es verboten, der Presse oder dem Fernsehen Interviews oder Statements zu geben. Auch dieses Interview fällt unter das Verbot.

F: Der Streit um die »Verordnung mit Gesetzeskraft« bezüglich der Beamten erregt seit Wochen die türkische Öffentlichkeit. Der Staatspräsident hat sich bislang geweigert, diesen von der Regierung verhängten Erlaß zu unterzeichnen, da er grundlegenden juristischen Kriterien widerspricht. Was hätte dieser Erlaß für Auswirkungen auf ihre Situation, falls er rechtskräftig wird?

Dann würden wir alle nicht nur verbannt, sondern für immer vom Dienst suspendiert und aus dem Staatsdienst entlassen. In der Presse wurde berichtet, daß die Regierung Listen von insgesamt 37 000 Personen vorbereitet hat, die als »bedenklich oder nicht tragbar für den öffentlichen Dienst« eingestuft werden.

Interview: Anna Chondrula